berliner szenen: Die Lügen der Popmusik
Im Taxi war ein Loch, also in der Karosserie, es waren sogar zwei, deutlich sichtbar in der rechten hinteren Seitentür, durch die Alea eingestiegen war. Aber sie machte sich keine Gedanken darüber. Sie merkte nichts, kein Lufthauch zog in den geruchsneutralen Innenraum des fossil betriebenen Mercedes, dessen modisch graue Rücksitze Komfort ausstrahlten, während von vorne die Musik eines Regionalsenders – der Berliner Rundfunk 91,4 – zu hören war.
Die Lügen der Popmusik, sagte Alea, als Roy Orbison „It’s so sweet and easy to love you“ sang, denn Liebe war alles andere als leicht und süß. Weder war es leicht und süß, jemanden zu lieben, noch war es leicht und süß, geliebt zu werden, vielleicht war das in früheren Zeiten, vor inzwischen, äh, fast sieben Dekaden noch anders, sagte Alea, während der Taxifahrer, ein junger Mann mit mittelblonden halblangen Haaren, die Musik lauter stellte. Im Taxi singen, im Aufzug singen, sagte Alea, während der Wagen an einer Ampel hielt, Leipziger Straße Ecke Mauerstraße, kurz vorm Potsdamer Platz, links das Museum für Kommunikation, leider geschlossen, und sie einen Blick auf die unteren Hälften der vorbeieilenden Passanten warf, Unterliebe, Unterleibe, Beine in Bluejeans, Füße in dreckigen Weltraumsneakern oder abgewetzten Puschelstiefeln, es ist so süß und leicht, euch zu lieben. Alea erzählte von ihrem letzten festen Freund, der nie bei ihr duschen wollte, sondern immer nur bei seiner Mutter duschte, weswegen er seine Mutter öfter besuchte als sie. Seltsame Neurosen. Und sie erzählte von der Freundin, die von ihr wissen wollte, warum sie ihn überhaupt liebe, so oft, wie er gar nicht da war, abwesend wie ein alter Vater, ein Vater von vor 70 Jahren, vor zwei Generationen, manche Dinge änderten sich nie, und Alea hatte geantwortet: „Er hat mir geholfen, echte Angst zu empfinden.“
René Hamann
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen