berliner szenen: Die negativen Reste
In der Mittagspause stieg ich der Redaktion aufs Dach. Von hier oben wirkte alles überschaubar. Ich lehnte über die Brüstung, machte eine Übung in Achtsamkeit, atmete tief ein, versuchte, mich zu entspannen.
Ich sah auf kleine Mädchen herunter, die unten auf der Straße spielten. Sie bemalten die Pflastersteine, zogen Kreise. Die Szene wirkte in ihrer Unschuld beinahe altmodisch. Die Kinder merkten nicht, dass sie beobachtet wurden, sondern hüpften selbstvergessen auf dem Asphalt herum.
Hinter den Häusern stieg ein Fesselballon auf, auf dem groß „DIE“ geschrieben stand. „DIE“ stand auf dem Ballon, auf Englisch, ganz klar. Ich streckte mich, um einen Blick auf das etwa fünfhundert Meter entfernte Stadthotel zu werfen, aber es versteckte sich hinter herausragenden Bäumen und einem kleinen, flachen Neubau.
Die verdächtigen Securitytypen, die vor dem Hotel herumgelungert hatten, waren von hier aus nicht auszumachen. Keine Ahnung, was sie trieben. Vielleicht leide ich unter einem Verfolgungswahn, dachte ich: Überall sehe ich Nazis. Neue und alte. Verschwundene und wiedergekehrte. Wiedergänger, Heimsuchende. Und sie wollen uns töten. Uns alle.
Ich fühlte eine steinerne Restmüdigkeit in den Knochen. Das Gesetz der zunehmenden Penetranz der negativen Reste. Die Pause war unbestimmt lang, aber bald sollte weiterproduziert werden. Die Maschine wollte gefüttert werden. Der permanente Kriegszustand, der über dem Land lag, war eine Schimäre, eine kontinuierliche Drohkulisse, die sich selbst am Laufen hielt. Am hinteren Bildrand funkelten hellblaue Kleinschwimmbecken in der Sonne. Aber Los Angeles war das nicht. Das war klar. Aber klar war auch, dass alles entflammbar war, trotz des feuerfesten Betons, der Spezialanfertigungen, des Wassers. René Hamann
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