berliner szenen: Sie beäugten mich stumm
Am Breitscheidplatz hielt ich an, um zu einer vor Jahrzehnten ausgebrannten Kirche aufzuschauen. Ein Monument aus einer anderen Zeit. Es brauchte ein halbes Jahrhundert, um sie zu errichten, es brauchte arbeitswillige Tagelöhner, irre Behörden und eine gut gefüllte Staatskasse, um sie fertig zu bauen, und dann brauchte es nur etwa eine halbe Nacht, um sie zu zerstören. Eine Bombennacht. Eine schwere, vom Brand fast schwarze Ruine, von der der tröstliche Gedanke an die Relativität der Zeit ausging. Die Kirche würde morgen noch dastehen, im nächsten Jahr, im nächsten Jahrzehnt, in einem Jahrhundert, wie ewiger Stein.
Ich ging weiter. Eine etablierte Politikerin lächelte selbstbewusst und perfekt geschminkt von einem Plakat herab. Und worum ging es dabei? Um etwas Devotes? Um Staatshörigkeit? Oder immer noch um die Suche nach der Mutter? Ich begann zu frieren.
Der Himmel hinter dem zerstörten Kirchturm klarte auf. Hinter dem Platz, vor einem Stadthotel, standen Männer in grauen Anzügen und beobachteten das Geschehen, während ich meinen Weg fortsetzte, mit den Händen in den Hosentaschen, am beflaggten Stadthotel vorbei. Ich sah die Männer, sogenannte Bodyguards, Körperschützer, die an ihrer einheitlich grauen Kleidung zu erkennen waren, an den altmodischen Kurzhaarschnittfrisuren, der schneidigen Atmosphäre, die ihre bloße Anwesenheit verbreitete, an der griffbereiten Technik, die der Abwehr oder zur Meldung diente.
Sie beäugten mich stumm und wirkten passiv bedrohlich. Es war plötzlich völlig logisch, dass sie mich als einen von der Gegenseite, als Angestellten der Aufklärung erkannten: ein Medienarbeiter auf dem Weg zur Arbeit. Aber noch rührten sie sich nicht. Sie schauten nur.
René Hamann
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