berliner szenen: Ausgeleiert und verspannt
Im Wartebereich der Physiotherapie, ein Raum war es nicht, sondern ein niedriger Tisch, zwei Stühle und eine Garderobe am Rand des Flurs, weinte ich leise. Vor der Behandlung fühlte ich mich oft schwach und hilflos. Mein Körper war voller Verbrauchsspuren, ich fühlte mich ausgeleiert und grundverspannt. Es war, als ob mein Körper den Todestrieb entdeckt hatte. Das Böse schlief in mir, das Böse schlief in uns allen, es lag alarmbereit in der Traumschlafphase, immer kurz vor dem Aufwachen.
Es war kalt, es war Herbst geworden, es herrschte schlechtes Wetter in der Welt der Sexualität. Ich war mittlerweile 48 Jahre alt und verstand das alles immer noch nicht: das Leben, die Liebe, den Umgang mit dem Körper. Meinem und denen der anderen. Während ich also leise weinte, wollte ich laut ausrufen: Und ich? Was ist mit mir? Bin ich denn kein Mann? Warum, woher die Ablehnung, hier und überall? War ich Patient null? Und dann musste ich sehr lachen, wegen dieser Larmoyanz, des Pathos, auf einem billigen Schalensitz im Wartebereich einer Physiotherapiepraxis einen Anfall von Selbstmitleid zu haben. Es war wie früher.
Als ich Teenager war, wollte ich mich ständig überall auf den Boden legen und die Arme ausstrecken, wenn ich mich so fühlte, auf Teppichböden, auf Estrich, auf Auslegeware, auf Parkett, völlig egal. Hinlegen und in einer Mischung aus Selbstmitleid und Weltschmerz an die Decke starren, die nichts zu bieten hatte. 23 Minuten schlafen. Ich wischte mir die Tränen ab und sah im Sitzen traurig auf die Dielen hinunter, als das Gelächter der Physiotherapeutin aus einem der Behandlungsräume kam. Eine Tresenfee konnte sich die Praxis nicht leisten, was ein Glück war, so war ich meistens unbeobachtet, während ich wartete. Unbeobachtet und allein. Aber allmählich wurde es Zeit, dass ich drankam. René Hamann
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