berliner szenen: Die kleine, schwache Wurst
Wir haben dann voriges Jahr doch noch geheiratet. Das war zwar ursprünglich nie beabsichtigt, aber wir wollten uns den Fun am Ende nicht entgehen lassen, uns eines Tages gegenseitig die lebenserhaltenden Apparaturen abzuschalten.
Eine wichtige Vorab-Info für die gleich folgenden Zusammenhänge: Wie alle Paare, die genug Liebe im Herzen haben, um möglichst lange in Frieden zusammenbleiben zu wollen, und genau dafür auch die geeigneten logistischen Vorkehrungen treffen, haben wir noch beide eine eigene Wohnung. Jetzt aber kam die erste gemeinsame Steuererklärung. An meine Adresse. Auch ihre ganz persönlichen Papiere. Denn ich bin der Mann. Deutschland im Jahre 2020.
Ich muss zugeben, sie können mich noch immer überraschen. Obwohl ich kein Patriarchatsleugner bin und mich – natürlich nur für mein Alter – für relativ woke halte (ich weiß sogar, was das bedeutet), schlägt bei mir die Erkenntnis von der Dimension des zivilisatorischen Stillstands manchmal immer noch wie eine Bombe ein.
Der gendermäßige Treppenwitz dieses emanzipatorischen Mittelalterspektakels: Im Vergleich zu ihr bin ich vollkommen bedeutungslos, zumindest was das Steueraufkommen betrifft, und daran bemisst unser Staat ja bekanntlich den gesellschaftlichen Wert des Menschen.
Ich bin gerade mal der fiskalische Wurmfortsatz meiner mächtigen Ehefrau; eine winzig kleine Wurst, eingemeindet, geschluckt, annektiert, kolonialisiert von einer vergleichsweisen Steuer- und Finanzgigantin, was sich schon allein darin manifestiert, dass ich als „freier Mitarbeiter“ für die taz „schreibe“: Sie ermöglicht mir dieses geistreiche Hobby. Hinter jeder starken Frau steht ein schwacher Mann. Ich muss einfach nur schön sein. Und ihren Namen mit an meinen Briefkasten kleben.
Uli Hannemann
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