berliner szenen: Wählerische Auftritte in Aufzügen
Der Aufzug hatte ein Loch. Es war nicht klar, wo, aber es war spürbar. Dem Luftstrom nach war es ungefähr tennisballgroß, aber wo es sich befand, oben oder unten oder seitlich, ließ sich nicht sagen. Die Monteure waren schon bestellt. A. stand wie jeden Morgen im Aufzug, zog ihr marineblaues Kleid straff, sie sah so militärisch korrekt aus wie immer, wenn sie zu Terminen außer Haus fuhr. Marineblaues Kleid, perfekte Strumpfhosen, gelackte Halbstiefel, teures Kleid, perfektes Make-up, schwarz getuschte Wimpern, dezenter Lippenstift. Handtasche im Anschlag, Mundschutzmaske immer griffbereit.
Sie atmete durch und besah sich im Spiegel, der die hintere Wand des Aufzugs bekleidete. Sie sah selbstredend gut aus. Eine taffe junge Frau auf dem Weg nach oben. So sah sie sich, so war sie. Ein Aufzug-Selfie wollte sie trotzdem nicht machen. Erst, wenn der Aufzug der richtige war, denn heute gab es die Gelegenheit zu einem besseren Aufzug, einem ohne Loch. Was fotografierte Auftritte in Aufzügen betraf, war sie wählerisch, und das mit Recht. Sie kannte die Marken, sie kannte die Baujahre, sie kannte die Leisten mit den Ziffern der Etagen, sie kannte die Daten des TÜV.
Der Lufthauch aus dem Loch ließ sie frösteln; ein Strom, der ihr über die rechte Wade strich. Sie musterte die herunterlaufenden Zahlen der Stockwerke, ein Countdown aus rot leuchtenden Zahlen, das Loch störte ihre Konzentration. Unten seitlich, dachte sie. Rechts unten seitlich. Sie atmete noch einmal. Sie fühlte sich streng und exakt. Sie war auf dem Weg in die City West, ins Geschäftshochhaus am Breitscheidplatz, ein relativ neues Glasbauwerk mit amerikanischer Bezeichnung. Dort würde sie ihren großen Auftritt haben in dem großen Aufzug mit blank gewienerten Spiegeln auf dem Weg in den 14. Stock. Ohne irgendein Loch. René Hamann
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