berliner szenen: Revolution mit Multiple Choice
Es gibt Konstanten im Elternleben. Kinder gehen zur Schule, nach jeden Sommerferien beginnt ein neues Schuljahr. Und während sich durch die Coronapandemie gezeigt hat, wie wenig Schulen für digitale Bildung gerüstet sind, schickt die Schule uns jetzt das Bestellformular für die neuen Schulbücher. Ich weiß nicht: soll ich weinen oder hysterisch lachen? Denn seit ich „homeschoole“, habe ich all diese Bücher so gut wie nicht genutzt. Stattdessen drucke ich jede Woche seitenweise Arbeitsblätter für den „Unterricht“ aus. Möglichst farbig, weil sonst schlecht lesbar.
Das Thema Französische Revolution zum Beispiel. Könnte spannend sein. Einen Hintergrundtext dazu gibt es nicht. Auf dem Arbeitsblatt ist der Link zu einem kurzen Video, dazu ein Fragebogen mit Multiple-Choice-Antworten. Fertig. Als Nächstes kommt jetzt das Zeitalter der Aufklärung. Ich hab die Zettel schon gedruckt, ohne Brille kann ich nicht mal die Überschriften lesen.
In Französisch hingegen gibt es ein Lehrbuch: „Lies den Text auf S 48, schreibe die neuen Vokabeln ab, dazu Aufgaben 1–3“. Keine Hörbeispiele, keine Filme, keine Musik – nichts, was diese Sprache annähernd lebendig machen könnte. Wir versuchen, die neue Grammatik aus dem Buch zu erschließen. Ich finde keine Erklärungen und keine Beispiele. Also erkläre ich selber. Philologisches Hochschulstudium und jahrelange Arbeit als Nachhilfelehrerin haben mich sicher in französischer Schulgrammatik gemacht.
Ich finde das verstörend. Politiker haben natürlich keine Zeit, sich damit zu beschäftigen, sie haben mit Autoindustrie, Sommerurlaub und Fitnessstudios zu tun. Und Schulen müssen unter massivem Zeitdruck Hygienepläne, Notfallstundenpläne und Raumnutzungskonzepte erstellen, damit alle mal wieder für ein paar Tage in die Schule kommen. Bevor dann nach den Sommerferien das neue Schuljahr beginnt. Irgendwie.
Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen