berliner szenen: Küsschen hier und Küsschen da
Petrus hat Humor. Am ersten Tag des großen Lockdowns in Berlin scheint die Sonne strahlend schön. Die Leute gehen raus, und auch ich unternehme einen Corona-Spaziergang, solange die Kinder noch nicht zurück sind vom letzten Schultag. Der Spaziergang führt mich zu einem der sechs Corona-Testzentren in Berlin. Vor einem Nebengebäude der Vivantes-Kinderklinik stehen etwa zwanzig Leute eng beieinander. Nur zwei tragen einen Mundschutz. Sie schauen mich müde an. Ich schieße ein Foto und ziehe weiter.
Überall rennen Abiturienten in Faschingskostümen herum. Sie bevölkern den Spielplatz vor dem Planetarium. Ein paar Gehminuten davon entfernt, vor dem „Greifswalder Backshop“ in der gleichnamigen Straße, haben sich Schüler versammelt. Mucke läuft, und fast alle haben eine Flasche Bier in der Hand. Man busselt sich ab. Die Passanten, die sich an den Abiturienten von der gegenüberliegenden Kurt-Schwitters-Schule vorbeidrücken, schauen ein wenig missbilligend auf die Jugendlichen, jedenfalls bilde ich mir das ein. Ich denke ja auch: Ist es eine gute Idee, in diesen Tagen Party mit Küsschen hier und Küsschen da zu machen? Aber sie sind jung, sie haben mit ihren süßen 18 Jahren ein bisschen was geschafft, und es ist sicher schwer, das Hochgefühl einer für sie unbestimmten Virusangst zu opfern.
Im Biomarkt versuche ich, eine Tüte Cistus-Tee zu erstehen, aber eine Schlange, wie ich sie in dem Laden noch nie erlebt habe, schreckt mich ab. Ich mache kehrt und schaue in die nächste Bioklitsche. Dort ist das Regal mit Reis, Bohnen und Linsen wie leergefegt. Auch hier kein Tee. Am Stierbrunnen am Arnswalder Platz ist derweil eine andere Abi-Gang am Toben. Sie tanzen im großen Kreis. Mädchen tragen schulterfrei oder große Raumanzüge. Es ist Corona-Karneval.
Markus Völker
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen