berliner szenen: Ich bin nur ein kleines Faltboot
Während ich gerade zu Fuß unterwegs bin, kommt mir eine junge Fahrradfahrerin auf dem Weg beim Brachvogel entgegen. Sie weicht mir nicht aus, sondern wartet, bis ich ihr im letzten Moment ausweiche. Wahrscheinlich hatte sie einen Artikel über Manspreading in allen Lebensbereichen gelesen und sich vorgenommen, entgegenkommenden Männern nicht mehr automatisch auszuweichen. Vielleicht war sie mir aber auch nicht ausgewichen, weil sie mit ihrem Fahrrad fast doppelt so groß war wie ich.
Wahrscheinlich geht es beim „Ausweichen oder die Spur halten“ eher um Größe. Eine zwei Meter große Norwegerin würde mir nicht ausweichen. Auch dass die vier jungen Männer, die mir in der Gitschiner entgegenkommen, mich ignorieren, ist logisch: sie bilden eine Art Flottenverband und ich bin ein kleines Faltboot. Manchmal löst sich jemand versuchsweise aus der Männergruppe, um zu signalisieren, dass er ausweichen würde.
Im täglichen Verkehr weichen Pärchen auch nur selten aus, es sei denn, die entgegenkommende Person ist merklich älter, dann machen sie meist Platz, und es entstehen unentschiedene Bewegungen, auf die man als Entgegenkommender reagiert, so dass es zu witzigen Tanzschritten kommt. Außerdem gilt oft rechts vor links, wie es auch im Merkvers heißt: „Rechts vor links/ dann ging’s“, Innen- und Außenseite des Bürgersteigs spielen eine Rolle sowie der vermeintliche Status der Entgegenkommenden. Der amerikanische Freund weicht nachts immer Entgegenkommenden aus, die er für Kleinkriminelle hält, man weiß ja nie, wobei das Grußverhalten wieder eine andere Geschichte ist. Oder welche Antwort die korrekte nach dem Bezahlen wäre. „Bitte“ oder „kein Ding“ passt irgendwie nicht, „tschüss“ dagegen ist immer gut. Detlef Kuhlbrodt
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