berliner szenen: Seekrank durch Neukölln
Neulich wurde ich seekrank. Vom Fahrradfahren. Als ich nachts den Radweg an der Uhlandstraße entlangbrauste. Da die Wogen seines von Wurzeln aufgebäumten Pflasters von keiner Straßenlaterne beschienen werden, ist jede ein unerwarteter Schlag in den Magen.
Zwar fahre ich seit einem Fahrradunfall – bei dem zwei mutmaßlich Dari sprechende Männer mit einem unschlagbaren Vorrat an gebrauchten Taschentüchern Erste Hilfe leisteten – nur noch halb so schnell, aber auch 20 km/h reichen anscheinend aus: Als ich am Hermannplatz ankomme, schwanke ich und muss eine Magenberuhigungspause einlegen. In diesem Zustand die Sonnenallee entlang, wo vielleicht gerade jemand die Begeisterung über den neusten Hit von Reynmen in PS übersetzt, traue ich mich nicht. Das bringt mich auf die Idee auszuprobieren, wie weit der Fahrradweg auf der Karl-Marx-Straße inzwischen ist. Überraschung! Fast fertig und überall Poller, die Zweite-Reihe-Parken auf dem Radweg verunmöglichen. Neukölln kann bald als Neu-Amsterdam durchgehen!
Die Freude darüber bringt mich wiederum zur Feststellung, dass ich schon lange nicht mehr verbal von Leuten angerempelt wurde, die mehr von Radfahrregeln verstehen als ich.
Aber dann passiert es natürlich. Die Poller hören auf, ich fahre näher an den rechten Straßenrand, wo genau in dem Moment eine Autotür von innen aufgeworfen wird. Ich kann gerade noch abbremsen. Eine Wolke Angstschweiß steigt in den Berliner Abendhimmel. „Fotze!“, ertönt es da plötzlich vor mir. „Was?!? Heißt das sorry?“, frage ich. „Das heißt, dass du keine Augen im Kopf hast.“
Kurz zweifle ich, ob ich jetzt sehkrank oder seekrank bin. Aber in Bezug auf Neuköllner Betroffenheitsjargon macht das wahrscheinlich keinen Unterschied.
Astrid Kaminski
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