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berliner szenenEine Welt ohne Rollstühle

Dr. Schmidt kicherte. Es gibt Versuche, sagte er, leibeigenen Knorpel zu züchten und statt der Bandscheibe einzusetzen, das hält aber nicht lange. Ein Jahr oder so. In Japan hatte man Patienten die Bandscheiben junger Verkehrsopfer transplantiert. Das klappte auch, referierte er, allerdings müssten die Patienten dann ordentlich Medikamente schlucken, damit die Abstoßung des Fremdkörpers unterbunden wird. Wie bei transplantierten Nieren oder Lebern. Eines Tages, schloss er, wird es Genbehandlungen geben. Da wird Ihnen was injiziert, irgendeine Geninfo, und Sie bilden aus sich heraus eine neue Bandscheibe mitsamt Ring. Es lebe der medizinische Fortschritt!

Ja, sagte ich, das klingt wundervoll, wirklich. Ich kann es kaum erwarten. Eine Welt ohne Rollstühle, ohne Pandemien, ohne Organhandel. Eine Welt, in der man den Todeszeitpunkt selbst bestimmen kann, gesetzt, die Menschheit bekommt Unfälle und Konflikte und Kriege und Hungersnöte und den Klimawandel in den Griff. Eine schöne neue Welt. Aber noch lebten wir in Zeiten, wo sich Kreationismus und Esoterik ausbreiteten, wo gemeine Kinderkrankheiten zu Epidemien ausarteten, weil Eltern sich „medizinkritisch“ gaben und einfaches Impfen unterbanden. Es gibt so viel Unglück da draußen, schauen Sie sich an, wie krank die Welt ist! Sagte ich dann nicht. Aber Dr. Schmidt und ich verstanden uns auch so. Zum Abschied fuhr er seine große, überraschend patschige Hand aus. Der Vorfall werde sich zurückbilden, verabschiedete er sich. Da ich keine Lähmungserscheinungen hatte, da es keine Raumnot gab, wie er sich so schön poetisch ausdrückte, werden wir mit Schmerzmitteln und manueller Therapie weitermachen. Die neue Verordnung kommt bei der Sprechstundenhilfe aus dem Drucker. Danke schön, guten Tag.

René Hamann

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