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berliner szenenDie kleine Ringbahn-Prinzessin

In der Ringbahn bittet ein Mann die Fahrgäste um ein wenig Kleingeld. Seine Kleidung ist verschmutzt, er riecht nach Urin und abgestandenem Schweiß. Als er vor uns stehen bleibt, hält sich das Teenager-Mädchen neben mir die Nase zu und blickt betont weg. Ich habe kein Kleingeld und frage, ob er stattdessen ein paar Zigaretten haben möchte. Er greift stillschweigend zu.

Als er weitergeht, atmet das Mädchen neben mir aus und fächelt sich Luft zu. Ich muss an das damals fünfjährige Mädchen denken, auf das ich während meiner Zeit in Buenos Aires aufpasste, damit sie von mir Deutsch lernt – die Sprache ihres Vaters, der bereits vor ihrer Geburt nach Deutschland zurückgegangen war und seitdem nur durch Pakete voller rosafarbener Kleider und Postkartengrüße an „la pequeña princesa“ von sich hören ließ.

Bei einer unserer ersten Begegnungen kamen wir auf dem Weg von der Kita zu ihrem Haus in Palermo, einem gut situierten Viertel, an einem schlafenden Obdachlosen vorbei. Sie blieb stehen und musterte ihn eine Weile von oben bis unten. Dann fragte sie: „Warum ist der Mann so dreckig? Und warum liegt er hier?“ Ich erklärte ihr, dass er auf der Straße lebe. Sie starrte ihn weiter unverhohlen an: „Warum hat er kein Haus? Und warum geht er nicht einfach in ein Hotel?“ Ich erinnere mich nicht mehr an meine genauen Antworten. Ihre Reaktion aber werde ich nie vergessen: Sie strich ihr Kleid glatt, zog mich weiter und erklärte bei einem letzten Blick zurück: „Wenn ich groß bin, pass’ ich auf mein Geld auf. Ich geb’ andern nix. Ich will nich’ so eklig werden wie der.“

Das Mädchen neben mir sieht dem Mann in der Ringbahn mit demselben Gesichtsausdruck hinterher wie „la pequeña princesa“. Dann zückt sie ihre Schminktasche, zieht ihre Lippen nach und lächelt ihr Spiegelbild an.

Eva-Lena Lörzer

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