berliner szenen: 15 Minuten Steppe in Neukölln
Mit deiner weißen Mütze siehst du aus wie eine Pusteblume“, sagt jemand. „Man bekommt Lust, dich zu pusten“, schickt der Mann noch hinterher, als wir ihn weiter ignorieren. Wenn das als Beleidigung gemeint sein sollte – sie finde es ziemlich süß, erwidert sie.
Dabei würde sie lieber wie eine Femme Fatale aussehen. Das sagt sie mir zwar nicht, aber ich kann es erkennen in der Art und Weise, wie sie ihre Augen nach oben zeichnet und die Mütze perfekt darübersetzt. Ihr Parfum erinnert mich an den Pelzmantel von Oma. Doch für mich wirkt sie mit dieser Mütze wie eine sowjetische Spionin aus einem Film. Die Ecke Karl-Marx-Straße mit Weichselstraße wird zur sibirischen Steppe. Schnee, Schlittenhunde, Anna Karenina. Sie lacht, als hätten wir Wodka getrunken – das haben wir, um uns warmzuhalten – nicht deswegen – und wir nicht wüssten, wohin mit unseren langen Kleidern, die immer nasser und schwerer werden – in Wirklichkeit tragen wir billige H&M-Jeans.
15 Minuten lang versuchen wir, die imaginäre Steppe zu verlassen, indem wir uns kichernd versprechen, jetzt im Ernst, zu gehen. Etwa so: Wir gehen schon, komm, lass uns gehen, ich gehe, ja ich auch, okay, dann gehen wir, ja, ich muss morgen früh arbeiten, ich auch. Wir gehen dann, lass uns gehen, wir sehen uns ein anderes Mal, ja, bis bald, mach's gut, du auch, ich muss wirklich los, ja ich auch, okay, gehen wir, sagen wir abwechselnd.
Doch niemand wagt den ersten Schritt zu machen. Bis zwei Männer in unserer Nähe eine Diskussion anfangen. Sie werden immer lauter und wir nutzen die Situation, um langsam nach Neukölln zurückzukehren. Denn es gibt weder Pferde noch Kutsche, wir haben auch keine Schneeflocken auf den Wimpern. Eigentlich mögen wir uns gar nicht, außer wenn wir uns verabschieden müssen. Luciana Ferrando
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