berliner szenen: Auf Hähnchen in der Nacht
Ich nehme ihr Angebot an und esse das halbe Hähnchen mit den Händen und lecke dabei meine Fingerkuppen ab, jede einzelne, auch meine rot lackierten Fingernägel. Keine Serviette in Sicht, keine Absicht, eine Serviette zu besorgen. „Wenn schon, denn schon. Es gehört dazu, dreckig zu werden, oder?“, sage ich. „Ganz schön krass für eine Vegetarierin“, stelle ich mir vor, dass sie sagen wird. Aber sie lacht nur, ich lache und wir essen weiter auf dem Kneipentisch, das Chicken von City Chicken, dazu Pommes mit Mayo.
Lustig, wie der Geruch von Fett und gegrilltem Fleisch es schafft, durch die dichte Rauchwolke in die Menschennasen zu gelangen. Doch niemand lässt sich davon stören, nicht in dieser Kneipe, nicht um diese Uhrzeit, und wir essen fertig bis auf den Knochen, die auf dem Pappteller ein düsteres Orakel bilden. Nach dem Essen bin ich so satt, dass ich mich kaum bewegen kann. Ob ich „auf Hähnchen“ sei, fragt sie, als würde es sich um eine Droge handeln, und ich muss zugeben, dass es sich ein bisschen so anfühlt. Vor allem weiß ich nicht, wie es dazu kam, dass ich mit ihr bis vier Uhr nachts dasitze und über Filme und Stammgäste rede und Fleisch schlinge, als würde die Welt gleich danach explodieren und untergehen.
„Hast du mich gehasst?“, hatte sie mich eines Abends einige Wochen zuvor gefragt, als ich sie zufällig traf. „Ja“, hatte ich beantwortet und wir hatten uns umarmt und getanzt. Es war wie Hexerei. Ich dachte, ich hätte das nur geträumt, doch jetzt sind meine geliebte Feindin und ich wieder da.
Es nieselt, merken wir, als wir später draußen vor der Tür stehen. Wie eine Pusteblume sieht sie aus mit ihrer weißen Mütze. Wir schieben das Rad bis zur Karl-Marx-Straße, wo sich unsere Wege trennen. Dann fahre ich die Flughafenstraße hoch und gehe ins Bett mit vollem Magen und vielen Fragen im Kopf. Luciana Ferrando
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