berliner szenen: Die Wahrheit über Charlie
Das war geil. Oh ja, richtig geil. Jetzt muss ich eine rauchen, aber das war geil“, sagt die blonde Frau, die sich draußen zu uns setzt, im Kiezkaffee am Mehringplatz. Das Karaoke ist gerade vorbei, das Publikum singt noch für sich „Red, red wine“ von UB40. Sie trinkt einen Schluck Wein und dreht sich eine dicke Zigarette. „In der 70er und 80er durfte man überall drin rauchen, man durfte kiffen, weißt du noch, K.?“, fragt sie die Besitzerin des Ladens.
Diese erzählt von Doppeldeckerbussen mit Raucherbereich und rauchenden Ärzten. „Ich bin über 50“, sagt die Stammkundin. „Fast 60 bin ich. Natürlich erinnere ich mich daran.“ Sie kann es nicht glauben, dass wir rein zufällig und nicht über Facebook gekommen sind. Heute mache man alles mit dem Computer, sagt sie. Der Organisator des Karaokes sammelt E-Mail-Adressen für seinen Newsletter und unsere Begleiterin will sich in die Liste eintragen. Nach vier Gläsern Rotwein fällt es ihr schwer, der Organisator übernimmt es für sie. Er fragt nach ihrer E-Mail-Adresse und sie sagt Checkpoint Charlie. „At Gmail?“, fragt er. Und als sie ratlos guckt: „Web, gmx?“ Sie: „Nein, am Checkpoint Charlie wohne ich. Seit über 20 Jahren wohne ich am Checkpoint Charlie.“ Der junge Mann gibt irgendwann auf: „Du kennst sowieso die Chefin, sie sagt dir Bescheid.“
Dann versteht sie plötzlich. „Ahhh, Computer. Nein, ich hasse Computer! Und ich wohne am Checkpoint Charlie, und wollt ihr die Wahrheit wissen?“ Wir nicken alle. „Es gibt immer mehr Restaurants, Cafés, was weiß ich. Das ist amerikanisiert, alles amerikanisiert“, sagt sie. Wir schauen sie fragend an und warten. „Was hat das bitteschön mit unserer Geschichte zu tun? Ich bin Berlinerin. Checkpoint Charlie ist ein Zirkus, ein Zirkus des Kapitalismus. Das ist die Wahrheit, die ihr wissen sollt.“
Luciana Ferrando
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