berliner szenen: Versuch’s mal mit Ehrlichkeit
U 8 zwischen Alexanderplatz und Hermannstraße: Binnen zehn Minuten steigen gleich drei Menschen in den Waggon, die um Geld bitten. Ein Mittzwanziger hält einen Monolog darüber, warum er Heroin braucht und endet: „Mir is’ klar, dass mir dafür niemand was geben will, aber ich dachte, ich versuch’s mal mit Ehrlichkeit.“ Alle sehen betreten weg. Als er aussteigt, steigt eine Frau mit Baby ein und hält den Fahrgästen wortlos ihre Hand hin. Auch sie wird ignoriert. Ein Vater sagt zu seiner Tochter: „So einer darf man nichts geben. Da steckt eine kriminelle Bande hinter.“
Kurz darauf fährt ein Mann im Rollstuhl durch den Waggon und bittet um Kleingeld: „Durch einen Unfall obdachlos.“ Zwei Frauen geben ihm jeweils einen Euro. Die Tochter sieht ihren Vater fragend an. Der meint: „Bei dem kann man’s nicht wissen. Gibt einige, die so tun, als könnten sie nicht laufen und am Ende des Tages zur Bank rennen.“ Er beobachtet den Mann: „Lohnt sich anscheinend. Wenn er so weitermacht, kommt er auf 20 Euro die Stunde.“
Eine Frau mit Hund steigt ein. Der Mann im Rollstuhl lächelt den Hund an, deutet auf dessen verbundene Pfote und meint: „Das Bein ist es bei mir auch.“ Die Hundebesitzerin fragt: „Echt, was ist denn mit deinem Bein?“ Er lüftet seine Decke, legt einen schwarz-blau verfärbten Fuß frei und meint: „Abgestorben.“ Sie entgegnet entsetzt: „Da muss man doch was machen können?“ Er zuckt mit den Schultern: „Hab keine Krankenversicherung und keine Papiere mehr.“
Und dann mit hilflosem Lächeln: „Das, was ich hier zusammen bekomme, reicht nicht für Prothese oder Perso.“ Die Hundebesitzerin nickt verständnisvoll: „Gerade hab ich kein Geld dabei. Aber morgen kann ich dir 30 Euro für ’nen Perso bringen. Wo finde ich dich denn dann?“ Eva-Lena Lörzer
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