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berliner szenenHätten Sie einen Zehner?

Montagmorgen, auf dem Weg zur Arbeit. Wie gewöhnlich radle ich von Pankow nach Kreuzberg, das sind etwa zehn Kilometer, und ich brauche dafür knapp 45 Minuten. Heute bin ich spät dran, viel zu spät. Am U-Bahnhof Pankstraße, nach zwei Kilometern, komme ich an einer Uhr vorbei. Sie zeigt zehn vor neun, das ist schlecht. Eigentlich sollte ich bis spätestens halb neun hier sein. Jetzt wären es noch acht Kilometer mit dem Rad, etwas mehr als dreißig Minuten. Ich beschließe, für eine Teilstrecke die Bahn zu nehmen.

Vor dem Fahrstuhl am ­S-Bahnhof Humboldthain sitzt ein Mann auf der Erde. Das habe ich hier noch nie erlebt, und es bringt mich aus dem Konzept so früh am Morgen. Der Mann sieht verwahrlost aus. In der einen Hand hält er eine Zigarette, in der anderen einen leeren Pappbecher. „Hallo, ich hab Aids und …“, nuschelt er mir entgegen, als ich auf den Fahrstuhlknopf drücke. Den Rest des Satzes verstehe ich nicht, aber der Mann sieht nicht gut aus. Weil der Fahrstuhl noch nicht da ist, krame ich in meinem Portemonnaie nach Geld. Es gibt jede Menge Münzen zu zehn und zwanzig Cent sowie ein einzelnes 2-Euro-Stück. Ich möchte kein Kleingeld abzählen, außerdem kann ich ohne Lesebrille diese kleinen Münzen sowieso schlecht ausein­anderhalten. Darum reiche ich ihm die 2 Euro. „Nee“, sagt er. „Ich habe Aids, ich habe Hunger. Hätten Sie vielleicht einen Zehner oder einen Fünfer?“ Es ist der frühen Zeit und meiner Morgenmüdigkeit geschuldet, dass ich keine schlagfertige Antwort parat habe, sondern mein 2-Euro-Stück wieder einstecke und sage: „Ich habe nur einen 50-Euro-Schein, den möchte ich Ihnen jetzt nicht geben.“ Der Fahrstuhl kommt, ich steige ein. Hinter meinem Rücken höre ich den Mann sagen: „Sie haben sicher auch 100 Euro. Oder mehr.“ Gaby Coldewey

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