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berliner szenenWillkommen im 21. Jahrhundert

Am Dienstagabend ist die S7 ungewöhnlich leer: Als ich in Schöneweide in meinen Waggon steige, befinden sich darin eine ältere Frau, ein Anfang Dreißigjähriger und zwei vielleicht 16-jährige Mädchen. Ich habe einen neunstündigen Arbeitstag hinter mir und stürze mich auf ein Brötchen. Im Kauen bemerke ich, dass mich die Frau gegenüber unverhohlen anstarrt. Beobachtet zu werden ist mir fremd: Sonst bin ich es, die das Verhalten anderer studiert. Aber vermutlich fände ich mich auch gerade interessant. Eine Frau in Bürokleidung, die so gierig schlingt, als lümmele sie auf ihrer Couch rum. Während ich das denke, fällt eine Tomate aus meinem Brötchen: Der rote Saft fließt langsam mein weißes Hemd hinunter. Die Frau verpasst den Anblick. Sie schließt gerade gähnend die Augen.

Auch die anderen verhalten sich so, als befänden sie sich in ihrem Wohnzimmer: Der Mann neben mir kaut lautstark eine Möhre und schneidet dabei ein Skatervideo auf seinem Computer. Die Mädchen gegenüber sind vertieft in einen Videoanruf: „Wir wissen genau, dass du geredet hast. Aus der Nummer kommst du jetzt nich mehr raus, wallah.“

Der Mensch am anderen Ende der Leitung kommt nicht zu Wort. Die beiden reden abwechselnd auf ihn ein, fallen sich gegenseitig ins Wort und werden immer lauter: „Mit wem wir rummachen, geht dich und deine Crew einen Scheiß an. Du bist nicht unser Bruder, wallah. Und selbst wenn du das wärst: Unser Körper, unsere Sache.“ Er scheint sie zu beschimpfen. Ich kann nur zischartige Laute hören. Eine der beiden schreit: „Wie deutlich muss ich denn werden? Ich ficke, wann, wie und wen ich will. Willkommen im 21. Jahrhundert.“ Und dann: „Dann nenn mich doch Mannsweib, wallah. Bin ich stolz drauf! Besser als so ’ne Heulsuse wie du.“

Eva-Lena Lörzer

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