berliner szenen: Bloß keine Packung kaufen
Meine U-Bahn hält an der Deutschen Oper. Die nächste kommt erst in 15 Minuten. Ich setze mich vor einen Supermarkt und stecke mir eine Zigarette an. Eine Frau hält mir im Vorbeigehen ein Fünfzig-Cent-Stück hin und fragt, ob sie mir eine abkaufen könne: „Ich will keine Packung kaufen – sonst fange ich wieder richtig an.“ Ich schenke ihr eine Zigarette und erkläre, mit dem Abkaufen von Zigaretten hätte es bei mir nach Jahren der Abstinenz wieder angefangen.
Neugierig nimmt sie neben mir Platz und fragt: „Warum? Stress?“ Ich nicke. Sie bittet mich um Feuer Und meint: „Es ist immer Stress.“ Und erzählt, sie habe erst vor zwei Wochen wieder zu rauchen begonnen: „In Paris, am Flughafen, nach einem Besuch bei meinen Kindern in den Staaten.“
Sie rückt näher an mich heran und sagt: „Stress kann tödlich sein.“ Ich nicke. Sie erklärt, dass sie letztes Jahr einen Schlaganfall wegen eines Pakets hatte: „Mein Sohn hatte mir 1.500 Euro geschickt – aber das Paket kam nie an.“ Wir sinnieren über Stress. Das Schlimmste, meint sie, sei Beziehungsstress: „Ich fühle noch heute ganz plastisch, wie mir früher die Luft wegblieb, wenn mein Mann mal wieder ausgerastet ist.“ Sie legt ihre Hand an den Hals und simuliert ein Würgen. Ich sehe sie entsetzt an.
Sie beruhigt mich: „Ich habe mich deswegen bereits vor vierzig Jahren getrennt.“ Sie erzählt, wie er ihr nach der Trennung die Kinder weggenommen habe und sie ohne alles dastand, arbeitslos und obdachlos, und endet: „Das war die Liebe meines Lebens.“ Ich runzle die Stirn: „Trotz allem?“ Sie nickt: „Klar. Die große Liebe geht doch nie gut. Cést la vie.“ Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Ich hätte sicher jemand besseres heiraten können. Aber dann hätte ich jetzt nicht die Kinder, die ich habe. Meine Kinder sind einfach nur wunderbar.“ Eva-Lena Lörzer
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