berliner szenen: Verschleiert, wie ein Schattenriss
Es hatte etwas Nostalgisches, zu Fuß zu Tchibo zu gehen, Guthaben zu kaufen und dann mit dem Beleg zu M. zu wandern; Zossener und Gitschiner Straße, an der Latina-Bar vorbei und Getränke-Hoffman, Netto, die Kreuzung Prinzenstraße, die Spätiszene am U-Bahnhof Prinzenstraße, der er sich angeschlossen hätte, wenn er immer noch trinken würde; ein dünner Mann hebt sein Bier in den Himmel. Die meisten hier sind Migranten. Junge Leute, Familien und Flüchtlinge. Und ein paar behinderte Männer, vor allem zwischen Mitte 50 und 70, wie mein Kumpel M.
Drei türkische Jungs in bunten Shorts und T-Shirts in Dreiecksformation auf orangefarbenen Leihrädern. Der ältere Junge posiert und wirkt sehr zufrieden und ist dicker als der spittelige Junge ein paar Meter nach ihm. Eine schlanke, dunkel verschleierte junge Frau kommt mir entgegen, wie ein Schattenriss; die kleine aufgenähte Türkeifahne in Höhe des Brustbeins wirkt wie ein modisches Accessoire. Zwei junge Männer, die ich für Flüchtlinge halte, warten schweigend an der Tür. Ein Bewohner kommt und schließt die Tür auf. Wir warten am Fahrstuhl. Die Fahrstuhltür öffnet sich. Da steht M. mit seinem Rollator, in einem fast bis zum Bauchnabel offenen weißen Hemd.
Er sagt, die Gegensprechanlage sei kaputt. Ich sage, das hätte doch nicht sein müssen. Irgendwie bin ich stolz auf meinen Freund, dass er so abgerissen, aber gleichzeitig auch cool aussieht. Er bestätigt mir sozusagen meine Streetcredibility.
Ich stelle mich mit ihm in den Fahrstuhl. Der andere hätte auch mit reingepasst, aber dann hätten sich unsere Körper berührt. Höflich winkt er ab. Ich sage, ich schicke ihm gleich den Fahrstuhl. Wir müssen ja nur bis in den ersten Stock. Zu zweit im Fahrstuhl plus Rollator ist es schon ein bisschen eng.
Detlef Kuhlbrodt
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