berliner szenen: Auf welcher Seite sind Sie?
Menschen und Bücher, das Thema beschäftigt mich. Vor allem in der U-Bahn interessiert mich, was die anderen lesen. Merkwürdig finde ich Menschen, die die Einbände ihrer Bücher mit Hüllen verdecken. Schämen sie sich, Bestseller zu lesen? Handelt es sich um pornografische Literatur? Wollen sie wegen ihrer Lektüre nicht in eine Kategorie gesteckt werden? Sind sie gierig und wollen alles für sich behalten oder doch vielleicht nur das Buch schützen? Schade, denke ich. LeserInnen, die wie ich willkürlich AutorInnen, Genres und Sprachen durcheinanderlesen, brauchen jede Inspiration.
Es ist überhaupt schön zu sehen, wie viele Fahrgäste immer noch lieber in ihren Büchern statt in ihren Handys versinken. Meine jüngste Entdeckung ist, dass ich nicht die Einzige bin, die beim Laufen weiterliest. Wir sind sogar viele. Manchmal würde ich am liebsten bis zur Endstation sitzen bleiben, um zu erfahren, wie es in meinem Buch weitergeht. Stattdessen lese ich beim Aussteigen, auf dem Gleis, auf der Treppe, auf der Straße bis zur Arbeit. Wenn jemand etwas sagen würde, würde ich erwidern, dass Telefonieren beim Gehen doch genauso gefährlich ist. Ich werde schief angeguckt, aber darauf angesprochen hat mich bislang noch niemand.
Das Schönste war, als ich einmal eine Frau in der U-Bahn sah, die das gleiche Buch wie ich las. Sie stieg wie ich Rathaus Neukölln aus. „Entschuldigung“, sagte ich und zeigte ihr das Buch, „auf welcher Seite sind Sie?“ Ich fragte es in der Hoffnung, dass der Zufall noch größer wäre und wir gerade dieselbe Stelle lasen. Sie sah mich überrascht an: „Dreihundertsechzehn, und Sie?“ – „Hundertdrei.“ – „Na dann, viel Spaß.“ Sie steckte das Buch in ihre Tasche und verschwand Richtung Neukölln Arkaden. Ich las noch die Seite zu Ende.
Luciana Ferrando
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