berliner szenen: Nachbarin macht große Augen
Gen Fenster geneigt, die Haare auf einer Seite, als wären sie sehr schwer, sitzt mir gegenüber ein Mädel in der U8, Samstagfrüh. Sie trägt einen Fake-Pelzmantel mit Strassbroschen (Ameisen, Spinnen), kaputte Strumpfhosen und auf einer Wange ein schwarzes Eddingherz. Tasche hat sie keine dabei, nur eine leere Bierflasche in der Hand.
Sie schläft immer wieder ein und ihr Kopf fällt in Zeitlupe auf die Schulter ihrer Sitznachbarin. Diese macht große Augen und schaut in meine Richtung. Ich lächele sie an, aber sie lächelt nicht zurück. Stattdessen wartet sie bis ein anderer Sitzplatz frei wird und springt dort hin. Die Einschlafende kriegt eine neue Sitznachbarin, die nach ein paar Stationen auch irritiert zu sein scheint, doch sie bleibt sitzen: Die U-Bahn ist voll. Das Mädel schaut sich in der Fensterscheibe an, reibt sich die erröteten Augen und macht ein Kopfkissen mit den Händen. Träumt sie? War sie tanzen? Ist sie verliebt? Da ich nur zur Arbeit fahre, kommt mir mein Leben langweilig vor. Ich erinnere mich daran, als ich noch nach einer Partynacht in den Öffis schlief bis zur Endstation und zurück. Oft hatte ich Glück: nette FahrerInnen oder Fahrgäste, die mir irgendwann Bescheid gaben, als wir da ankamen, wo es nicht weiterging. Ein Mal in Paris aber dauerte es lange, bis jemand sich einmischte: ich verließ den Club (à Chateau Rouge) gegen 6 Uhr morgens und kam drei Stunden später endlich (à Porte d’Orleans) nach Hause.
Wenn ich neben dem Mädchen sitzen würde, würde ich sie deshalb einfach fragen, wo sie aussteigen muss und ob sie möchte, dass ich sie wecke. Es würde mich nicht stören, wenn sie sich an mich lehnen würde, auch nicht, wenn sie nach Alkohol und Zigaretten riecht.
Kurz vor Jannowitzbrücke steht sie voller Energie auf und geht zur Tür, ohne auf irgendjemanden zu achten. Luciana Ferrando
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