berliner szenen: Recherche geht auch am Tresen
Ich sitz jetzt schon einige Stunden hier, trinke, rede, esse, trinke noch mehr. Eigentlich wollte ich nur ganz kurz vorbeischauen, mal Hallo sagen. Die neu eröffnete Foodbar in Kreuzberg heißt „Crémant“, ich trage eine maßgebliche Mitschuld an dem Namen. Champagner ist längst aus der Mode gekommen, der Crémant ist das Getränk der Jetztzeit, so hatten ich und einige Mitstreiter den Besitzer wochenlang ins Gebet genommen. Schließlich gab er nach.
Ob es so klug war, einen Freund in unmittelbarer Nachbarschaft eine solche Lokalität aufmachen zu lassen, sei dahingestellt, ich habe soeben einen alkoholfreien Monat hinter mir, das Gewissen ist vorerst beruhigt. Einer geht noch.
Ob ich denn nicht arbeiten müsse, fragt jemand. Tu ich ja grade, wo ist das verdammte Problem? „Recherche“, antworte ich und bestelle ein weiteres Glas des köstlich sprudelnden Schaumweins.
Das ist das Tolle an meinem Beruf, jedwede Tätigkeit dient der Inspiration, auch wenn es erst einmal nicht so aussieht. „Inspiration ist niemals echt, wenn man sie sogleich als solche empfindet“ sagte der Satiriker und passionierte Schafzüchter Samuel Butler der Ältere einst.
Oder wie es der US-amerikanische Autor Paul Rudnick etwas präziser formulierte: „Writing is 90 percent procrastination: reading magazines, eating cereal out of the box, watching infomercials. It’s a matter of doing everything you can to avoid writing, until it is about four in the morning and you reach the point where you have to write.“
Bevor ich also Cornflakes mampfend vor einer Dauerwerbesendung für Staubsauger döse und mich frage, ob dieser Alleskönner für den Haushalt wirklich sein Geld wert ist, kauer ich doch lieber hier am Tresen und warte, bis es endlich zu spät ist. Zu spät, um nicht mehr nicht zu schreiben. Juri Sternburg
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