berliner szenen: Schieb den Turm auf die D-Linie
Montagabend, S5 Richtung Osten. Das S-Bahn-Abteil ist proppevoll. Am Alex wird überraschend ein Sitzplatz frei. Neben mir ein junger Mann, der auf sein Smartphone schaut. Nichts Besonderes. Doch!
Er spielt Online-Schach, auf einer Plattform, auf der ich auch aktiv bin. „Zeig mal“, sage ich, „vielleicht kann ich dir helfen.“ „Wirklich?“, fragt er ungläubig. Er hat seine Dame durch einen sogenannten Spieß verloren, Anfängerfehler; außerdem steht sein schwarzer König ungeschützt in der Mitte. Die Stellung ist verloren. Mich packt der Ehrgeiz. Am Tag zuvor habe ich beim Punktspiel in der Kreisklasse nach über vier Stunden Kampf eine blöde Niederlage einstecken müssen; jetzt könnte eine kleine Revanche gelingen. Der Gegner meines Nachbarn ist auch nur Anfänger.
„Erst mal den König zur Seite“, sage ich, „dann einen Turm auf die offene D-Linie.“ Wir bekommen ein bisschen Ordnung in die Stellung, während der Gegner mit einem Pferd am Damenflügel heranhoppelt und sich schon auf eine Springergabel freut, mit der er einen Turm erobern kann. „Scheiß was auf den einen Turm“, meine ich, „wir brauchen einen Gegenangriff, das ist die letzte Chance.“
Wir schieben den anderen Turm auf die zweite Reihe; nun üben ein Turm, ein Läufer und ein Springer Druck auf den gegnerischen König aus. Dann ein schwacher Zug des Gegners, uns gelingt ein Einschlag.
Er muss reagieren – falsch, ein Schach, dann ein Abzugsschach, und plötzlich steht der König schutzlos eingeklemmt am Rand. „Soll ich?“, fragt mein Partner. „Bloß nicht“, gehe ich dazwischen, „das ist doch schon Matt in einem Zug! Aber den musst du jetzt selber finden!“ Er sieht ihn, seine Augen leuchten – Turm nach h2, Matt, gewonnen!
„Vielen Dank“, sagt er, als er in Lichtenberg aussteigt. „Schick mir mal’ne Nachricht, wie es bei dir so läuft!“
Richard Rother
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