berliner szenen: Dessous für Jungen
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Meine größte Angst in Bekleidungsgeschäften ist, mich aus Versehen in der Mädchenecke umzusehen. Am schlimmsten ist es bei H&M, wo man sich höchstens noch an den Farben orientieren kann. Das lebensfrohe Lila steht für Mädchen, während das kampfbewährte Grün signalisiert, dass man sich in dieser Abteilung nicht dabei ertappen muss, wie man aus Zerstreutheit seit einer Weile Dessous betrachtet hat.
In einer Kiste liegen zurzeit zum Mitnehmen die Plakate mit der schönen Frau drauf, mit denen H&M einen motivieren will, nicht lockerzulassen, bis man auch mal so eine findet. Man muss sich dazu natürlich neue Sachen kaufen. Hoch motiviert stellte ich mich also vor kurzem mit sechs Kleidungsstücken an den Kabinen an. Direkt vor mir stand ein Mädchen, das Dessous ausgesucht hatte. Jeder Blinde mit Krückstock konnte sehen, dass sie knapp ausfallen würden. Aber sie hatte sonst nichts im Leben.
In der Kabinentür war genau in Kopfhöhe ein Bullauge angebracht, so dass man sich ducken musste, um nicht von den Wartenden dabei beobachtet zu werden, wie man ungläubig in den Spiegel schaute. Die neue Hose und das neue Hemd sahen eindeutig besser aus als die alte Hose und das alte Hemd. Nur ich sah immer noch aus wie vorher. Nachdem ich mich sechsmal an- und ausgezogen hatte, sah ich durch das Bullauge das Dessous-Mädchen. Es stand wieder in der Schlange, die Sachen hatten wirklich nicht gepasst. Draußen gab ich die sechs Kleidungsstücke wieder zurück. Vielleicht hätte ich zu dem Mädchen etwas sagen sollen. Allein ich hatte Angst, dass sie etwas antworten würde. JOCHEN SCHMIDT
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