berliner szenen: Tschinag im Tertianum
Liebe in Tuwa
Ein schwerer Duft, ein lichter Raum, eine Schamanenlesung. Wir sind im Forum der Tertianum-Residenz, einem Edel-Seniorenwohnheim gleich neben dem KaDeWe (Monatspreis ab 6.465 Mark inkl. Drei-Gänge-Menü und Marmorbad). Es riecht nach Orchideen. Grauhaarige feine Damen sitzen in Korbsesseln an kleinen Tischen. Ein Herr ist auch da. In eine karierte Decke gehüllt sitzt er als einziger allein an seinem Tisch. Hinter den Glaswänden, die das Forum umschließen, schweben Saaltöchter mit silbernen Tabletts lautlos umher.
Der Schamane kommt. Galsan Tschinag aus dem ehemaligen Königreich Tuwa in der heutigen Mongolei. Vor sechs Jahren führte er als Stammesoberhaupt Teile seines verstreut lebenden Volkes in einer riesigen Karawane mit 130 schwer beladenen Kamelen, mit Schafen, Hühnern, Hunden und 300 Pferden über fast 2.000 Kilometer in seine alte Heimat zurück. Ins Altai-Gebirge, aus dem es durch stalinistische Zwangsumsiedlung vertrieben worden war. Heute kommt Galsan Tschinag mit Krawatte, hellem Sakko und Jeans. Er sagt: „Galsan Tschinag gibt es nicht. Deshalb kann ich heute Abend ganz kühn von ihm sprechen.“ Er wird an diesem Abend noch andere Rätsel aufgeben. Seine Stimme hallt durch das hohe Foyer. Über der Glaskuppel ziehen kleine Wolken vorbei. Galsan Tschinag kommt aus einem Volk ohne Dichter: „Vor mir war keiner und nach mir wird keiner sein. Deshalb sitze ich inmitten von Geschichten.“ Eine davon liest er heute. Seinen Roman: „Der Weiße Berg“. Die Geschichte von einem Jungen im Häuptlingszelt, der zum Schamanen wird. Und zum Dichter. Seine Geschichte.
Später liest er Gedichte auf Mongolisch: „Ich bin auch ein mongolischer Dichter“, sagt er. Die Gedichte klingen sehr schön, so nach . . . man weiß nicht was. Er sagt: „Sie haben die Sprache nicht verstanden. Aber die Hitze gespürt, den Wind gefühlt. Es ging um die Liebe.“ VOLKER WEIDERMANN
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