berliner szenen : Monolog eines Junkies
Warmer Entzug
Mittwochabend, U-Bahnhof Eberswalder Straße. Ein Punk schaut verwundert die Bahnhofsuhr an. „Ist es wirklich erst halb neun?“ Nicken der Umstehenden. „Jetzt bin ich aber total durcheinander. Auf der Uhr an der Straße war es auf der einen Seite halb zehn, auf der anderen halb elf.“ Er setzt sich neben mich. „Entschuldigen Sie, könnte ich Ihnen eine Zigarette abkaufen?“ Ich schenke ihm eine. „Oh vielen Dank! Ich bin nämlich wieder auf der Straße. Meine Mutter hat mich rausgeschmissen. Sie hat gesagt: Sebastian, du bist wieder rückfällig geworden, du kannst nicht mehr bei mir wohnen! Na ja, und jetzt bin ich wieder abhängig, auf der Straße trifft man eben die alten Leute wieder.“ Er sieht mich mit seinen braunen Kinderaugen an und nimmt die Kapuze vom Kopf. „Seh ich eigentlich schlimm aus?“, fragt er und streicht sich durch die kurzen rotschwarzen Haare. Ich schüttle den Kopf. „Seit drei Wochen habe ich mich nicht gewaschen.“ Es gibt Leute, die sich öfter waschen und schlimmer stinken, denke ich. Die U-Bahn kommt. Er setzt sich und sagt: „Ich will aber wieder weg vom Heroin. Ich kenne da eine Streetworkerin, die will mir helfen, Methadon zu bekommen. Aber ich will nicht ins Methadonprogramm rein, da wird man auch schnell abhängig davon.“ Seine Haut ist im grellen Licht des Wagens ganz blass, seine Pupillen riesengroß. „Vielleicht kann ich das Methadon ja langsam abbauen, immer weniger innerhalb von ein paar Wochen. Das nennt man warm entziehen. So ganz kalt, das schaff ich nicht.“ Die U-Bahn hält, er steht auf und hält mir zum Abschied die Hand hin: „Schönen Abend noch.“ Vor dem Wegfahren sehe ich, wie er verloren am Bahnsteig steht, auf der Suche nach dem nächsten Zuhörer. ELKE ECKERT
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