berliner szenen: In der NS-Bahn
Ferne Vergangenheit
Am Hackeschen Markt steigt mit mir ein Musikant in die S-Bahn ein. Ich setzte mich zu drei Jugendlichen, er bleibt stehen und spielt ein paar Meter weiter mit Gitarre und Mundharmonika Rock ’n’ Roll.
Die beiden Mädchen und der Junge neben mir sind vielleicht 15 Jahre alt, tragen alle schwarze Klamotten und punkig gestylte Haare. Sie plaudern über die Schule. „Ich wäre ja auch gerne zum Castor gefahren, um die Schweine aufzuhalten, aber ich musste ja die Klausur mitschreiben“, sagt die eine. „Das ist doch voll okay, jetzt geht eben die Schule vor“, beruhigt die andere. „Dafür war doch Ulli dabei, bei dem ist ja sowieso alles egal, der hat schon drei Klausuren verpasst.
Währenddessen lauschen die drei und ich mit ihnen auf den Musikanten, der nach dem Alexanderplatz den letzten Akkord zupft und ein paar Groschen einsammeln will. Aber keiner gibt dem Bettelnden was. Der junge Mann neben mir kramt in den Hosentaschen und findet doch nichts. „Kacke“, ruft er und beginnt dafür laut zu klatschen. Ganz allein. Nicht mal die Mädels fallen ein. Und aus dem Abteil schon gar keiner. „Mensch, wieso klatschen die nicht mit. Die sind ja alle wie tot hier. Scheiß Berlin! Früher war das doch anders, damals in den goldenen Dreißigerjahren, da steppte hier noch der Bär“, beschwert sich der Applaudierende über die lahmen, emotionslosen Berliner von heute. Die anderen beiden gucken komisch, irgendetwas scheint nicht zu stimmen. „Goldene Dreißigerjahre“, sagt die eine, weiß aber auch nicht weiter, und die andere zuckt die Schultern, „Keine Ahnung. Du meinst die goldenen Zwanzigerjahre, sage ich. Die Dreißigerjahre waren alles andere als golden.“
ANDREAS HERGETH
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