berliner szenen: Oratorium in Lausanne
Funktionieren
Heute bin ich in Lausanne, meiner Geburtsstadt in der französischen Schweiz. Ich helfe meiner Tante beim Vorbereiten des Heiligabends. Auf dem Balkon, Blickrichtung Süden, rauche ich eine Zigarette der Marke „Parisienne“. Die Alpen vor mir sind schneebedeckt und erheben sich majestätisch vom Westen nach Osten über den Genfer See. Ganz westlich der Jura ist es auch ganz in weiß. Idyllisch. Zu meinen Füßen stehen mehrere Flaschen von dem trockenen Weißwein, den ein Cousin meines Vaters produziert. Zum Nachtisch wird es Käse geben, Vacherin aus roher Milch und später meinen Lieblingsobstsalat.
Doch, doch, irgendwie freue ich mich auf das Familientreffen. Ich bin ja älter geworden und Vater zweier Kinder. Die anstrengenden Jahre der Revolte gegen meine bürgerliche Herkunft und ihre heuchelnde christliche Tradition sind längst vorbei. Um halb elf werde ich sogar zum Weihnachtskonzert in die Kathedrale gehen. Es gehört zum Programm. Spätestens dann werde ich akzeptieren müssen, dass ich völlig am falschen Ort bin, und werde mich unvermeidlich fragen, warum ich mir hier irgend ein Oratorium anhöre, während zur gleichen Zeit in der Berliner Volksbühne mein Wunschkonzert stattfindet. Zuerst Barbara Morgenstern, mit ihren smarten, poetischen Liedern. Und dann, Mutter! Meine Lieblingsband! Ihre Konzerte sind immer ein unübertreffliches Ereignis! An ,,Spoorlos“ werde ich denken, ein Stück aus ihrem neuen Album ,,Europa gegen Amerika“, und dabei feststellen, dass der Text perfekt zu meiner augenblicklichen Situation passt: „Immer wieder, alleine du/ Wie Theater, das man spielt/ Wie Kulisse, die man schiebt/ Spielst du Rollen, die sie wollen/ Funktionierst.“
YVES ROSSET
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