: berliner szenen Ars Amandi
Sexualisiertes Dämmern
Montagabend in Mitte, Mittemontag. Fast leer ist es im „My Hanoi“, dem tapferen kleinen vietnamesischen Restaurant. Ein Mann und eine Frau sitzen vorn am Fenster zur Rosenthaler Straße. Sie essen im Schein eines Teelichts Tofu mit Klebreis, reden leise. Aus der Küche dringt gedämpfte Schlagermusik. Draußen ist es kalt, Passanten hasten eingemummelt vorbei, die Straßenbahn lässt das Haus erzittern, ein Blaulichtwagen rast ohne Sirene vorbei.
Gegenüber, im B-Flat, ist alles bereitgestellt: Podium, Mikro, zwanzig Tische, wieder Teelichter. Heute Abend gibt es hier ausnahmsweise eine Lesung, Martina Rellin liest aus ihren „Liebhaber“-Büchern, Protokollen selbstbewusster und auskunftsfreudiger Fremdgänger.
Die Gäste kommen paarweise, immer paarweise: Ein Tisch, ein Paar, Mann und Frau. Auch das Tofu-Paar aus dem Hanoi ist nun da. Seltsamer Anlass. Geht es doch in Rellins Büchern um das, was Paarkonstellationen eher spaltet: Fremdgehen, fortgesetzter Betrug, hemmungsloser Sex mit Zufallsbekanntschaften, alten Schulfreundinnen oder bestrapsten Fünfzigjährigen.
Während er sein Bier trinkt und sie, ihren Pashminaschal enger um die Schultern ziehend, an ihrem Pinot Grigio nippt, liest die Autorin vorn von Analverkehr, Unterwerfung und vollendetem Betrugs-Management. Wohl jeder hier fragt sich, warum die Mithörer an diesem kalten Montagabend hierher gekommen sind. Sind es Paare in Krise? Betrüger? Betrogene? Anschlusswillige?
Eine merkwürdige Kluft zwischen Vortrag und Publikum tut sich auf: Dampfender Sex – angeedelt interessierte Minen. Explizite Texte – flackernde Teelichter. Freundlicher Applaus. Seltsames Mitte. ANJA MAIER