berliner ökonomie: Unter den Plateausohlen der Revolution
Das Schustersterben
Die Schuhmacher gehörten immer zu den Radikalsten; aus diesem Beruf gingen die meisten Philosophen, Agitatoren und Terroristen hervor. Daher auch die obrigkeitliche Warnung: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ Doch die industrielle Revolution drängte den Schuster langsam an den Rand der Arbeiterbewegung, und all die exproletarischen Men-in-Sportswear-Banden, im Verein mit dem Turnschuhminister, ließen ihn fast verstummen.
Zwar gibt es noch immer 146 Schuster in Berlin. Aber in der einst berüchtigten Innung, die bereits 1284 gegründet worden war, sind nur noch 58 Mitglieder. Noch weniger, nämlich 40 Mitglieder, hat heute die Innung für Orthopädie und Schuhtechnik, die sich 1950 abspaltete. Damals sorgten die vor Stalingrad abgefrorenen Zehen für einen Orthopädieboom, den die Krankenkassen finanzierten. Auch heute gibt es wieder vermehrt Fußkranke. Der Grund dafür liege jedoch bei den miesen Modeschuhen und ihren Plateausohlen, wie mir der computergestützte Orthopäde Herr Friedrich erklärte, dessen Kreuzberger Geschäft in der Skalitzerstraße untergebracht ist.
Schräg gegenüber betreiben zwei Frauen ein Schuhgeschäft: „Meier und Schöpf“. Ein Paar Maßschuhe kostet bei ihnen ab 1.600 Mark. Die Großmutter der Meisterin kam aus Weißrussland und weiß, dass sich in Berlin zunehmend weißrussische Flickschuster niederlassen. Das weiß auch die Innung, die dazu erklärt, dass es für diese Emigranten „der einfachste Weg ist, sich selbstständig zu machen. Von den jungen Leuten will das ja heute keiner mehr machen.“ Der Schusterberuf ist nicht mehr attraktiv. Einst übten ihn auf dem Land oft körperlich schwache oder verkrüppelte Männer aus. Bei dieser geräuscharmen, sitzenden Tätigkeit konnten sie diskutieren und sich weiterbilden. Manche Schuster beschäftigten sogar Vorleser, und oft waren sie noch Dorfschreiber. Ende des 18. Jahrhunderts scheinen sie „eine regelrechte innere Berufung zur Revolution gehabt zu haben“, wie der Historiker Richard Cobb meint, und nicht wenige wurden berühmt: John Adams, Thomas Dunning, John Brant . . . Marx lobte wiederholt Wilhelm Weitling und Stalin den gelernten Schuster Ceauscescu.
Die DDR setzte einigen von ihnen ein Denkmal, als sie ihre Produktionsgenossenschaften nach berühmten Schustern benannte: Hans Sachs und Jakob Böhme zum Beispiel. Erstere ging in der Wende pleite, Letztere ist dafür heute eine große GmbH mit zentraler Reparaturstätte – und 85 Mitarbeitern. In Odessa sind die Schuster alle Griechen und in Moskau Tartaren. In Berlin werden jetzt die Schustereien in der Zeitung Russkij Berlin vor allem Weißrussen angeboten. Davor hatten die in Rente gehenden deutschen Schuster ihre Läden meist Türken übergeben. Letztere brauchten keine Meisterprüfung abzulegen, wenn sie sich auf die Reparatur der Außenschuhe beschränkten. Von dieser Regelung profitierten dann auch die „Mister Minit“-Läden und ihre Subunternehmer, die neben der „Absatzbar“ noch einen Schlüsseldienst betreiben – und vor allem mit Superexpresskleber arbeiten, wie Frau Schöpf abschätzig meint. Im Übrigen befürchtet sie, dass wegen der vielen irreparablen „Schuhe aus einem Guss“ in nächster Zeit noch viel mehr Schuster eingehen werden.
Die Kunden von „Meier und Schöpf“ kommen inzwischen aus ganz Berlin. Inklusive Leistenbauen brauchen die beiden Frauen für ein Paar Schuhe 80 bis 100 Stunden; die Materialkosten machen etwa 15 Prozent bei der Herstellung aus. Die Lederpreise sollen demnächst steigen: wegen des Rinderwahnsinns, lautet die Begründung. Andererseits kommt das meiste Leder aus Asien, und deswegen argumentiert man auch gerne mit den großen Überschwemmungen dort. Es gibt drei Lederhändler in Berlin, dazu noch drei Großhändler für Schusterbedarf.
Erwähnt seien noch die ganzen Verkäuferinnen in den Schuhläden, die sich an manchen Tagen schon die Füße in den Bauch stehen. Mitte der Neunziger gab es bereits eine erste große Fusionswelle, die zur Entlassung vieler älterer blonder Schuhverkäuferinnen führte, von denen eine Gruppe nun nebenbei anschaffen geht. Mit den steigenden Schuh- und Taschenpreisen wird es zu weiteren Ladenschließungen kommen, meinte gerade Innungsmeister Jacubowsky in der BZ: „Die Situation hat sich verschärft.“
Am 8. Juni versammelt sich dessen ungeachtet die Branche im „ARD-Hauptstadtstudio“, wo die Preisträger eines Wettbewerbs der Schusterinnung geehrt und ihre Werke vorgeführt werden. So hoch wie zur 700-Jahrfeier 1984 wird es nicht hergehen. Der Schuster ist schon lange nicht mehr die „Schlüsselfigur“ des intellektuellen und politischen Lebens auf dem Land – viel weniger in der Stadt, wie Eric Hobsbawm schreibt, der den Beruf in seiner schönen Aufsatzsammlung „Ungewöhnliche Menschen“ ehrte.
HELMUT HÖGE
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