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berlin viral„Jetzt übernehmen die Tiere die Stadt“

Es ist viertel vor zehn am Abend, ich bin schon im Schlafanzug und habe mich mit Wärmflasche und einem Buch in meine Decke eingemummelt, als es an der Tür klingelt. Meine Nachbarin N. steht davor. Sie trägt eine dicke Jacke, Maske und hat Lilli dabei, ihren Hund. Lilli begrüßt mich begeistert, winselt, springt an mir hoch und wirft mich fast um. „Kommst du mit auf unsere Gassigehrunde? Seit der Ausgangssperre ist es draußen so einsam, dass ich es ein bisschen unheimlich finde allein“, sagt N. und das kann ich verstehen.

Draußen habe ich eine dicke Jacke an, meine Mütze auf, die Wärmflasche steckt in meinem Schlafanzug. Wir ziehen die Köpfe ein. Es ist windig und kalt, der Asphalt glänzt vom Regen und spiegelt die einsamen Lichter der Ampeln wider. In der Ferne entdecken wir eine weitere Gestalt mit Hund, ansonsten sind die Straßen wie ausgestorben.

„Ist wirklich unheimlich“, sage ich. „Oder?“, sagt N., „Geradezu dystopisch. Aber Lilli denkt nur ans Jagen.“

Wir sehen Lilli zu, wie sie mit der Nase am Boden die Wege der Nachbarschaftskatzen erschnüffelt und lachen darüber. Unser Lachen prallt zu laut von den Häuserwänden ab, stößt sich an den parkenden Autos und legt sich dann auf die leere Straße. Irgendwann fährt ein Auto darüber. Es gibt noch Leben in der Stadt, denke ich. „Was sagen wir, falls wir kontrolliert werden wegen der Ausgangssperre?“, fragt N.

„Die Wahrheit?“, schlage ich vor. „Du gehst Gassi und ich begleite dich zur Sicherheit mit der Wärmflasche.“ Wir müssen beide kichern. Danach ist es wieder gespenstisch still.

„Psst“, mache ich, „hörst du das?“ Ich höre ein Schnuffeln oder ein Schubbern, ganz klar ist es nicht, es ist laut, klingt irgendwie pervers und kommt aus dem Gebüsch. Oh nee, bitte nicht, denke ich, mache mich größer als ich bin, als in dem Moment im Beet zur Straße ein Igel auftaucht. Er röchelt sich seinen Weg durch das Unkraut und verschwindet hinter einem Zaun. Lilli hat ihn zum Glück nicht bemerkt. Dafür kommt uns ein Pärchen entgegen.

„Entschuldigung“, sagt der Eine, „wissen Sie, wie spät es ist?“„Etwa zehn Uhr“, antworte ich. Er bedankt sich und wir hören im Weitergehen, wie er zu seinem Begleiter sagt: „Jetzt übernehmen die Tiere die Stadt.“ Während ich noch über diese Bemerkung nachdenke und überlege, ob er damit uns meint, gleich an mir heruntersehe und überprüfe, ob man erkennen kann, dass ich schon im Schlafanzug bin, sehen wir, wie ein Marder über den Gehsteig huscht. Er verschwindet sofort unter einem Auto und Lilli erhängt sich fast an der Leine, so sehr regt sie sich darüber auf.

N. hat alle Mühe, sie zu halten und kurz danach stoßen wir bereits auf das nächste Hundeärgernis. Ein großer Fuchs sitzt auf der Mittelinsel der Kreuzung zur Hauptstraße und sieht uns ausdruckslos entgegen.

Als Lilli anfängt zu bellen, legt er seinen Schwanz aufreizend langsam in einer eleganten Bewegung nach vorn. „Ist dir aufgefallen, dass die wilden Tiere immer größer werden grad?“, frage ich, aber N. versucht, Lilli in die Seitenstraße zu bewegen. „Ich hab keine Lust, auf ein Wildschwein zu treffen.“ „Doch nicht in Schöneberg“, sagt N. und ich antworte: „Ich glaube, die sind schon bis Tempelhof vorgedrungen, das ist doch nicht so weit.“

Kurz darauf hören wir an der Ecke zu unserer Straße wieder ein Geräusch. Diesmal klingt es wie ein Grunzen. Wir gucken uns beide an und laufen einfach los. Vor unserer Tür kommen wir zu Atem, drängen uns in den Hausflur und schließen die Tür fest hinter uns.

N. sagt: „Vielleicht übernehmen die Tiere nach zehn Uhr ja wirklich die Stadt.“ Und das halten wir grad beide nicht für ausgeschlossen.

Isobel Markus

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