berlin viral: Sippenhaft
Nach der Schließung im März dürfen wir mit unserer Lesebühne nun erstmals wieder in den Schokoladen zurück. Zwar mit begrenzter Zuschauerzahl, vielen Auflagen und einem Reservierungsaufwand, der uns unbürokratischer Slackerbande Kopfschmerzen organisatorischer und prinzipieller Natur bereitet, doch die Freude überwiegt.
Auf dem Weg zur Veranstaltung mache ich einen Zwischenhalt am Späti. Eine Gruppe junger Männer ohne Masken streift mit exzessiver Selbstverständlichkeit durch den Laden, der Betreiber guckt stillschweigend zu. Ein gewohnter Anblick in Neukölln.
Die Atmosphäre im Schokoladen ist freundlich, aber gedämpft. Nicht alle der eh schon wenigen Plätze wurden reserviert. Die Leute sind verunsichert: Was geht überhaupt, wo ist es sicher, was wird morgen?
Alles wieder anders, denn direkt nach der Show erwartet uns der Downer: Die neuen Beschlüsse des Berliner Senats sind raus, dazu gehört eine Sperrstunde um 23 Uhr, die einer Bar wie dieser das Genick bricht. Denn wegen der geringeren Gästekapazität ist eine längere Nachtschicht mit Publikumsaustausch überlebenswichtig. Bereits nach unserem ersten Abend droht das Damoklesschwert der erneuten Schließung. Rein in den Schokoladen und schon wieder raus aus dem Schokoladen.
Vorbildlicher als im Schokoladen werden die Vorschriften dabei allenfalls noch auf der Intensivstation gehandhabt. Wir bekommen eine gründliche Einweisung in die Dos and Don’ts. Jeder kriegt einen eigenen Ploppschutz fürs Mikro, mehrere Tische für die zwei Handvoll Leute stehen sauber im Raum entzerrt, Listen und Stifte liegen auf jedem aus. Mundschutz auf dem Weg zum Tresen und zur Toilette. Keine verstößt gegen irgendwas, keiner mault, eigentlich muss keine überhaupt auf irgendetwas hingewiesen werden.
Und trotzdem gilt nun Sippenhaft für alle. Hätte man denn nicht stattdessen besser kontrollieren können: Wer nicht spurt, wird dichtgemacht; wer brav ist, darf bleiben? Nein, das kann man oder will man nicht. Das Ordnungsamt muss Radfahrer aufschreiben, die Polizei mit ihrer ganzen Armee den ausufernden Linksextremismus bekämpfen. Also stattdessen lieber alle in den Sack und Knüppel drauf. Dit is Berlin.
Halbseidene Splitterpartei
Auch die Berliner FDP sagt, es mangele an der Durchsetzung der bestehenden Regeln und nicht an neuen. Leichter spräche ich an dieser Stelle über meine Bettnässproblematik als über meinen eklatanten Zivilisationsbruch: Denn dies ist das erste Mal, seit die FDP in den 1980er, spätestens 1990er Jahren endgültig ihr heutiges Restprofil einer halbseidenen Splitterpartei angenommen hat, dass ich ihr recht geben muss. Das fühlt sich natürlich bitter an. Wie eine Kapitulation vor dem Bösen, ein Verlust des letzten politischen Anstands, ein moralischer Offenbarungseid. Aber merkwürdige Zeiten bringen nun mal die merkwürdigsten Verhaltensweisen hervor und damit auch ebensolche Bündnisse und Kompromisse.
Wie zum Beispiel das Kungeln mit der Ordnungsmacht später auf meinem Heimweg. Ich könnte nämlich die, in Sichtweite zu einer dicht an dicht auf der Oberbaumbrücke feiernden Masse, parkende Polizei zur Dienstverrichtung anhalten. Oder die nächste mundschutzfreie Jungschar im Späti zurechtweisen. Aber das käme mir alles so lächerlich vor. Jeder weiß doch im Grunde ganz genau Bescheid. Das Problem scheint mir noch nicht mal so sehr das Schwurbelvolk zu sein. Die blöken halt ihren Kram an der frischen Luft herum und sind im Alltag kaum ein Risiko, weil die eh keiner mag und alle Abstand von ihnen halten. Das Hauptproblem sind wohl eher die, denen alles egal ist. Uli Hannemann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen