berlin viral: Meldung aus der Lockerungslobby
Ich sitze in der Lockerungslobby, und ich sitze da gut. Der senfgelbe Ledersessel verbreitet eine ansprechende Mondänität und Eleganz, die diesen Zeiten nur guttun kann. Draußen vor dem Hotel, das trotz aller Lockerung weiterhin unter selbst auferlegter Quarantäne steht, jedenfalls in Teilzeit, sieht es ein wie nach einer Open-Air-Aufführung einer Krankenhausserie aus. Aber immer noch besser als die postapokalyptische Leere, die sich hier noch vor drei bis vier Wochen verbreitete.
Nach dem Lockdown herrscht jetzt also die Maskerade, aber ich bin in meinem Hotel Mama auch ohne Mama recht besänftigt inzwischen, von den Zahlen, der besseren Atmosphäre, der Zeit. Es geht weiter aufwärts. Als ich das letzte Mal im Edeka von einem Kassierer ohne Mundschutz bedient worden war, habe ich mich noch sehr schmutzig gefühlt. Bis ich endlich wieder zu Hause bei fließend Wasser war. Das war irgendwann Anfang April, also schon lange her, denn die Zeit fließt trotz der allgemeinen Entschleunigung immer noch weiter, was sehr angenehm ist.
Mittlerweile habe ich selbst mein erstes und zweites und bei Drucklegung dieses Artikels vermutlich drittes und viertes Mal mit Maske hinter mich gebracht. Beim ersten Mal war es eine Erfahrung wie bei einer Mondlandung: Die Brille beschlägt, und Luft bekommt man auch kaum, weswegen das Torkeln durch den Supermarkt ziemlich panikgetrieben war; am Ende hatte ich nur den halben Einkauf erledigt. Auf Niederländisch heißt der Mundschutz treffend „mondmasker“, Mondmaske, allerdings mit kurzem O. Der Mond da oben heißt auf Niederländisch „maan“.
Beim zweiten Mal lief es dank Lifehack und chinesischer Fachberatung per Videochat deutlich einfacher. Man muss nur den Draht so biegen, dass keine Atemluft mehr nach oben steigt. Trotzdem, wenn ich die Wahl habe, ziehe ich die Mondmaske lieber nicht auf. Zum Beispiel im Späti oder beim Bäcker. Auch weil fraglich ist, ob es sich um Einzelhandel handelt oder nicht. Die Läden, die auf die Mundschutzpflicht hinweisen, werden auch mit einem solchen betreten; Anweisungen sind mir lieber als moralische Erörterungen, ob nun der Kassierer oder ich auf dem Mond steht und viral geht. Ist sowieso schon zu viel Moral da draußen.
Ein anderes Phänomen ist das neue Dating. Auch hier geht es um Videochats und Sexting, in der Realität jedoch um die Rückkehr tot geglaubter Anbahnungstechnik. Leben in der Romantik, wie im 19. Jahrhundert. Wobei sich die Frage stellt, wohin sollen all die Spaziergänge führen? Durch wie viele Parks kann man gehen? Was passiert bei schlechtem Wetter? Und wer von den einander bisher haushaltsfremden Personen macht den nächsten Schritt, der dann kein Schritt ist, sondern ein Griff, nachgerade ein Übergriff? René Hamann
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