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Archiv-Artikel

berlin ist das new york osteuropas von DOROTHEE WENNER

Die jungen Amerikaner im ICE Richtung Berlin dominierten das sonntäglich überfüllte Abteil, eigentlich jedoch nur die Mädchen. Sie waren, wie so oft im Teenager-Alter, ihren Klassenkameraden in Größe, Witz und Verstand um einiges voraus. Unablässig fuchtelten sie den etwas verstört wirkenden Jungs mit CDs, Haarbürsten und Wasserflaschen vor deren Laptops herum und störten sie beim DVD-Gucken. Durch ganz Ost-Westfalen hindurch redeten die Mädchen mit großer Begeisterung über irgendwelche Svens und Tills und Martins von der Party am Vorabend, unterbrochen von spitzen Begeisterungs- und Ekelschreien, als es um deren T-Shirts und Tanzstile ging.

In Wolfsburg machte sich erstmalig das mitreisende Lehrerpaar bemerkbar und zeigte auf das VW-Werk als Sehenswürdigkeit am Wegesrand, was eine kurze Diskussion auslöste, ob der „beetle“ nun cool oder das Gegenteil sei. Sie jedenfalls würde, sagte eine, die sich eher gegen den „beetle“ ausgesprochen hatte, trotzdem noch mal nach Germany kommen, aber bremste sich sofort selbst wieder aus mit einem „ … ah, I wish I would speak German“.

Kaum waren die Lauben am Berliner Stadtrand sichtbar, begann der große Aufbruch. Die Lehrerin forderte von einem der Jungen, ihren riesigen Hartschalenkoffer herbeizuwuchten. Auf den stellte sie sich, klatschte Aufmerksamkeit heischend in die Runde und hielt eine Ansprache: „Wir kommen jetzt gleich in Berlin an. Für uns alle gilt: Wir sind jetzt das erste Mal in Osteuropa. Das ist anders als alles, was wir kennen. Ich bitte euch, immer daran zu denken – wann immer wir auf der Straße unterwegs sind, müsst ihr aufpassen. Ihr dürft die Leute nicht provozieren, insbesondere für die Mädchen gilt: Tragt Schmuck nicht offen sichtbar! Und für alle: Haltet eure Portemonnaies immer eng am Körper! Passt auf eure Handtaschen auf!“

Die Vorwitzige aus dem Mädchenzirkel warf ein, man sei doch in einem Hostle in West-Berlin untergebracht? Doch darauf hatte die Lehrerin sofort eine Antwort parat: Das würde seit dem Fall der Mauer keinen Unterschied mehr machen, Berlin sei jetzt so wie New York, aber eben in Osteuropa – also die Kombination doppelter Härte. Das müssten die Schüler und Schülerinnen doch schon mal im Fernsehen gesehen haben?

Kurzes nervöses Gegrummel, das eindeutig die Vorfreude der Klasse auf Berlin steigerte. Dann meinte die Vorwitzige: „Also, ich denke, dass wir in den nächsten drei Tagen alle überfallen, ausgeraubt und vergewaltigt werden. Aber ich kann Ihnen versprechen: All unsere Berlin-Babys werden wir Ihnen dann später zur Adoption anbieten!“ Amerikanisch abgeklärt antwortete die Lehrerin, so viele Kinder wolle sie ja gar nicht. Und dass man sie bitte ernst nehmen solle.

In den Wirren der außergewöhnlichen Berlin-Einführung vergaß prompt einer der Jungen eine DVD-Hülle. Die reichte ihm ein freundlicher Westberliner auf dem Bahnsteig nach. Die gesamte Gruppe nahm die Geste mit großer Erleichterung als „positive welcome“ auf. Dennoch drängten sich die Amerikaner ganz eng zusammen, als sie sich vom Bahnsteig hinab auf den Weg in den Berliner Großstadtdschungel machten.