berlin buch boom: Schöner Materialband: Olaf Leitners Buch über das Westberlin der Siebziger- und Achtzigerjahre
Die weltberühmtesten Westberliner Erinnerungen
Wer älter wird, denkt gern zurück an all die schönen Orte, Dinge oder Menschen, die da waren. Glücklich, wer dann noch in Westberlin gewesen ist: Denn was hier geschah, ist nicht nur passiert, sondern historisch. Man ist nicht nur alt geworden, sondern war dabei und Zeuge der inzwischen untergegangenen Mauerstadt Westberlin. So etwas adelt die Erinnerung, ist sie doch unverzichtbarer Bestandteil einer Rekonstruktion. Westberlin zwölf Jahre nach seinem offiziellem Ende zu rekonstruieren, tritt Olaf Leitner nun an.
Journalist, langjähriger Musikredakteur beim Rias, Tip-Kolumnist und mit alldem sicherlich bekannt in Westberlin, führte Leitner im Laufe des letzten Jahres gut drei Dutzend Interviews mit „jenen Persönlichkeiten, die Westberlin gestaltet haben“, hauptsächlich Kulturschaffende. Diese ergänzt er um elf Gespräche aus den letzten vierzig Jahren und versieht das Ganze mit einer „einseitigen Einführung ins Thema“ und einem „deutschlandpolitischen Glossar“ – wer nannte den Westteil wie und warum? Dazu einige Fotos, Gedichte und die Niedergangsgeschichte des Kurfürstendamms, dargestellt in einer Reihe eigener Glossen.
Den „Persönlichkeiten“ aber gehört das Gros der Seiten: Rainer Bieling, Hanna-Renate Laurien oder Klaus Zapf. Leitner gelingt es, sie zum Sprechen zu bringen. Was sie erzählen, enthält viele interessante Informationen. Für den Unwissenden sind allein schon die Details bemerkenswert: Berlin ist ja eine alte Hafenstadt, verrät Klaus Hoffmann, und Annette Humpe, ehemals Ideal-Sängerin und nunmehr in Hamburg, will „die ganzen Probleme da mit der Russenmafia nicht mehr haben“. Ihre gesungene Frage „Wer schützt uns vor Amerika?“ war ja seinerzeit 1982 vom Programmdirektor des Rias nicht gespielt worden, denn: Rias-Hörer hätten kein Interesse an einem derartigen Agitprop-Geplärre. Ach ja, der Kalte Krieg.
Wer schon immer mal wissen wollte, wie das mit dem Grips Theater und der CDU war, warum man Konzerte in der Waldbühne veranstaltete und wie viel Model-Agenturen West-Berlin hatte, hier steht es! Geschichten aufzeichnen, Namen bewahren, die sonst vergessen werden – diesen Anspruch erfüllt das Buch im Übermaß. Ein unverzichtbarer Materialienband für all diejenigen, die sich heute und in Zukunft mit Alltag, Kultur und Mentalität bestimmter Kreise und Gruppen im alten Westberlin beschäftigen müssen. Ihnen und jenen, die das notwendige Hintergrundwissen für die Lektüre des Tagesspiegels erwerben möchten, sei Leitners Buch ans Herz gelegt. Immerhin ist es „all jenen gewidmet, die unbeirrt daran glauben, dass Zukunft nur durch Erinnerung möglich ist.“
Das ist so schön wie platt: Freuen wir uns also auf die Zukunft, die möglich wird, wenn man sich an West-Berlin, Westberlin und Berlin (West) erinnert! CARSTEN WÜRMANN
Olaf Leitner: „West-Berlin! Westberlin! Berlin (West). Berlin“, Schwarzkopf & Schwarzkopf 2002, 349 Seiten, 22,90 €
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