berlin buch boom Edmund Edels Kapitel von der Berliner Oberfläche 1906: C-Klasse vor A-Klasse
Vermutlich macht es keinen großen Unterschied, ob man das Jahr 2002 schreibt oder das Jahr 1902: Der Society-Klüngel lebt, stellt sich aus, ist unschlagbar in seiner bornierten Selbstbezogenheit und deshalb auch mal eine Reise wert. Der Künstler und Satiriker Edmund Edel muss reichlich in die Niederungen der „guten Gesellschaft“ gereist sein, stellt er sich doch mit seinen Porträts als ihr intimer Kenner vor.
In seiner 1906 erstmals erschienenen und nun von Johannes Althoff neu herausgegebenen Textsammlung „Berlin W. Ein paar Kapitel von der Oberfläche“ widmete sich Edel hingebungsvoll seinem Hass- und Forschungsobjekt, der Berliner Neureichenszene. Doch zuerst zurück in die Gegenwart: Vor kurzem eröffnete der deutsche Promi-Fotograf André Rival in Mitte seine Fotoschau. Die amüsanten Fotografien, auf denen Rival als kleiner Puck neben seinen majestätischen Models zu sehen ist, machen sich gut zu Sekt und Kaviar. Sie verblassten aber völlig, als neben Models und Mantelträgern die örtliche C-Prominenz auftauchte. Ariane Sommer kam und gleich stolperten junge Männer rückwärts und bildeten Halbkreise, wo immer sie wandelte; Frauen über vierzig schickten neidische Blicke zur Mousse-Blondine, verschwitzte Pressefotografen drängelten sich mit gezückter Kamera in ihre Nähe. Den edlen Loft-Raum erfüllte ein Raunen. Edmund Edel hätte seine Freude gehabt. Denn was der zynische Porträtist der „Belle Epoque“, der Malerei studiert hatte und sein Geld als Illustrator für Zeitschriften verdiente, vor knapp einhundert Jahren notierte, könnte, mit verändertem Dekor, auch heute spielen.
Die „Kapitel von der Oberfläche“ erzählen im stichelnden Plauderton von der Geltungssucht des „neuen Berlin“, wie es sich damals rund um den Kurfürstendamm und das Bayerische Viertel etablierte. Hier zogen die neuen guten Familien, deren Wiege laut Edel noch „in Hinterpommern, in Schlesien oder in Westpreußen“ stand, in pompöse Neubauwohnungen, mit warmem Wasser, Wasserklosett, Ölheizung und Dienstpersonal. Hier formierte sich eine „Hautevolée“, die vermögend, fortschrittsorientiert und vergnügungssüchtig genug war, nach Frankreich zu schielen, sich zweimal im Jahr große Reisen und Fastenkuren in St. Moritz zu gönnen sowie Kunst und Vorträge für „Maman“, die „kleinen Damen vom Theater“ für „Papa“, die Malschule für die Tochter und das Jurastudium für den Sohn.
„Papa“, schreibt Edel, hat nicht mehr einen „Laden“, wie der Bürger alter Schule auf der Friedrichstraße, sondern ein „Kaufhaus“, ist Vorsitzender einer „AG“, Herzspezialist oder Privatdozent. „Mama ist chic“, intellektuell und unverstanden. Die Töchter haben Ambitionen zum Höheren und engagieren sich „im Sozialen“, die Söhne bevorzugen die Rennbahn.
Edel untersucht den Lebensstil der modernen Großbourgeoisie, er glossiert die Institution „Familie“, „Ehe“, den „Jour“, den wöchentlichen Salon der bürgerlichen Damen, das „Reisen“ und das „Ausgehen“. Er entblößt die Doppelmoral, Oberflächlichkeit und Dumpfheit der Bürgerschickeria, die materielle Sicherheit mit einem „Leben voller Abenteuer“ zusammendenkt.
Zuweilen ermüdet der sich in dekorativen Details verlierende Plauderton des Autors. Man erfährt sehr viel über Kleidung, Möbel und Orte, die heute keine Bedeutung mehr haben. Doch Edel krönt seine Texte mit brillanten Bonmots, z. B. über Theaterbesucher: „Sie freuen sich, daß sie dabei sein können, wenn Dame Literatur ihnen etwas zu verdauen gibt, und kauen Schinkenstullen in der Pause, weil der Körper nicht hungern darf, wenn der Geist futtert.“ JANA SITTNICK
Edmund Edel, Johannes Althoff: „Berlin W. Ein paar Kapitel von der Oberfläche“, Verlagshaus Braun, Berlin 2001, 159 Seiten, 15 €
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