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Archiv-Artikel

ausgehen und rumstehen Alles, was ich mir zu Weihnachten wünsche, sind meine Schneidezähne

Zwischen Leber und Milz passt immer noch eine Marzipankartoffel, ein Glück. Am Wochenende belauschte ich beim Festresteessen die interessante Geschichte einer entfernten Nachbarin: Ihr seien, so erzählte die sympathisch bodenständig und glaubhaft wirkende Dame, in ihrem kurzen, bald 40-jährigen Leben über den Daumen gepeilt bereits 25 Fahrräder gestohlen worden. Düsseldorf, Frankfurt, Berlin, egal wo sie wohnte, kaum kaufte sie’s, war’s auch schon weg. Die Tinte des „Manni’s Räderrampe“-Kartoffelstempels auf der Quittung war sozusagen noch feucht, da habe sie schon wieder allein mit durchschnittenem Superschloss im Hinterhof gestanden.

Wir rätselten, womit das zusammenhängen könnte. Die naheliegenden, logischen Gründe (nicht abgeschlossen, Wohnort neben einem Heim für sich im offenen Strafvollzug befindliche Fahrraddiebgangmitglieder, Alzheimer bezüglich der Abstellorte) schieden aus.

Doch warum dann? War sie vielleicht, sinnierten wir in unsere Kirschwassergläser, ohne es zu wissen eine Göttin der Diebe? Hermes in Gestalt einer gebürtigen Rheinländerin? War sie der Mittelpunkt einer perfiden psychologischen Experiments, von dem alle wissen, nur sie nicht, einer „Truman-Show“ mit Fahrrädern? Wollte man ihren Geduldsfaden dehnen, um ihre Fähigkeiten für gefährliche Leader-Jobs bei der CIA auszunutzen?

Ich rückte ein Stück von ihr ab, um einen objektiveren Blickwinkel einnehmen zu können, und überlegte, wie eine notorische Fahrradbestohlene auszusehen hat. Aber mir fiel dabei nur ein anderer Freund ein, der, gleichgültig wo er sich befindet, immer wieder nach dem Weg gefragt wird. Sogar in Urlaubsländern, in denen die Eingeborenen sich durch Stoff- und Haartracht grundlegend von ihm unterscheiden, fragen ihn Menschen in fremden Zungen nach der einfachsten Route zu den Pyramiden. Wenn ich mir aussuchen könnte, ob ich lieber global ortskundig aussehen oder fahrradlos durch das Leben strampeln müsste, könnte ich mich gar nicht entscheiden.

Die Partygespräche kullerten um ein paar gerade Kurven, und schließlich hockte ich den Rest des Abends in einem kleinen Kreuzberger Bums, in dem wattierte zartrosa Büstenhalter und Miederhöschen hinter Glas gepresst wie Bilder an den Wänden hingen, was der Atmosphäre einen angenehm strengen 50er-Jahre-Touch gab, und mich an meine neu erworbene 50er-Jahre-Verletzung, die Stirnverbrennung mit einem Lockenstab, erinnerte. Wir pusteten die just abgelaufene Weihnachtsdeko an, bis eine Tannenbaumkugel runterfiel und der Kellner mit dem Kehrblech kam. Später fand ich einen kleinen Kugelsplitter in meinem Wodka-Cranberry-Glas, und überlegte kurz, ob ich den Laden verklagen und großzügige Freigetränke herausschlagen sollte, so wie Julie Andrews mit der Kakerlake in „Victor/Victoria“. Aber im Ganzen war mir doch noch viel zu weihnachtlich ums Herz.

So spuckte ich den Splitter stillschweigend in einer sichere Ecke, in die Hunde- und Kinderpfötchen nie tapsen werden, und sang beim Nachhausetorkeln lauthals mein Lieblingsweihnachtslied vor mich hin, „All I want for christmas is my two front teeth“ in der Version von Spike Jones, in der bei jedem S- oder Th-Laut so laut aus der Zahnlücke gepfiffen wird, dass es zart besaiteteren Gemütern die Schuhe auszieht.

Von diesem schönen kleinen, 1944 entstandenen Song gibt es übrigens eine Coverversion eines Country-Parodisten namens Cledus T. Judd, die „All I want for christmas is two gold front teef“ heißt und in der gerappt wird. Und entweder lag es an meinem konzentrierten Durch-die-Zähne-Pfeifen, an der Promilleglocke, die mich begleitete, oder an der Gegend: Weder fragte mich jemand nach dem Weg, noch war mein Fahrrad weg. Ich bin doch ein Glückspilz. JENNI ZYLKA