ausgehen und rumstehen : Die Langeweile ist der Motor allen kulturellen Geschehens
Es ist unklar, wann der Begriff des Ausgehens erfüllt ist. „Um in die Wertung zu kommen“, (denkt man sogleich, wegen der Olympiade), muss dieses und jenes erfüllt werden: Möglichst lange wegbleiben, viel Geld ausgeben, von hier nach da ziehen, sich den Kopf wegknallen, Unsinn reden, Tanzen vielleicht; irgendeine interessante Irritation sollte vorbeikommen und Gespräche vermieden werden, die den Sinn dessen infrage stellen, was man gerade macht, zum Beispiel: Wozu treffen wir uns denn überhaupt immer und eigentlich haben wir uns ja doch nichts zu sagen. Aus Langeweile, aus Langeweile!
Manche gehen nicht hinaus, aus Angst vor der Langweiligkeit dessen, dem sie draußen vielleicht begegnen könnten, manche schämen sich, weil ihnen plötzlich so langweilig ist unter Wahlverwandten, die sie und weil sie sie schon lange kennen, und anstatt die Stille als Befreiung vom Produktionszwang interessanter Beiträge zu genießen, bleiben manche dann lieber zu Hause, um sich mit sich selbst zu langweilen.
Nervös wartet der eine Teil von einem selbst darauf, dass der andere etwas Interessantes tut, aber der andere will auch nicht und wartet. Nun den Fernseher anzumachen, würde in eine durchs Fernsehgucken zugleich sedierte und verdoppelte Depression führen und so schaukelt sich die vor der Unlust herumstehende Unentschiedenheit hoch.
Und das Gegenteil der Langeweile ist die Sucht, dachte ich an diesem heißen, stickigen Nachmittag letzte Woche, als ich B. wieder vor Kaiser’s herumstehen sah. Der dünne Subkulturelle mit dem Afrolook ist immer ganz schwarz gekleidet und steht da schon seit mehr als sieben Jahren und fragt, ob man ihm was geben mag. Eigentlich sieht er ganz schick aus mit seinem blassen, feinen Gesicht und ist auch immer freundlich. Er wirkt, als wenn er aus den 80er-Jahren – mit Nick Cave, Bixa Bargeld, Iggy Pop und John Cale – vielleicht käme und da dann stehen geblieben wäre. Wir hatten ab und zu in den letzten zehn Jahren miteinander gesprochen. Während er bettelt, guckt er immer halb auf den Boden und erkennt mich immer erst, wenn ich „hallo“ sage. – „Ach so. Du bist das.“
Weil ich das bin, braucht er mir von vergeblicher Wohnungssuche und Arbeitslosigkeit nichts zu erzählen. Ich sage auch nichts, sondern denke, dass er sein halbes Leben vor der Langeweile weggelaufen ist und deshalb halt Junkie wurde. Die Sucht strukturiert die Tage ja und gibt ihnen ein Gerüst aus Leiden und Linderung des Leidens; die Sucht materialisiert sozusagen das Nichts, in dem man sich verloren fühlt, das man nicht zu fassen kriegt, wenn man sich langweilt. B. litt auch unter der Hitze und sagte: „Man muss kämpfen, bis der Notarzt kommt.“
Wir grinsten beide, vielleicht auch, weil wir ja nicht blöd sind, sondern wussten, dass man sich auch einfach auf eine Decke in die Hasenheide hätte legen können und die Wolken anschauen, die Reizschwellen also quasi homöopathisch hochsetzen müsste, um zu genießen, dass eigentlich nichts geschieht grade, anstatt hier rumzustehen und auf den Notarzt zu warten. Die Langeweile ist der Motor kulturellen Geschehens, dass sich so oft selbst entwertet und denen entfremdet, deren Geist anfällig ist für Langeweile.
Aber eigentlich sollte es ja ums unspektakuläre Ausgehen gehen und wie wir da Freitag- und Samstagabend am gepflegten Flipper in der Kreuzberger „Cahuna“-Lounge standen, mit diesem netten angetrunkenem und zugerauchten Kreuzberger Pärchen. Und wie Nadine („ich bin Nadine“), die jahrelang im „Intertank“ geflippert hatte, nicht aufhören konnte, weil die Ergebnisse schlecht waren, obgleich sie doch eigentlich gut ist. Und wie sie dann doch noch ein Freispiel holte. Das war prima und ein gelungener Abend.
DETLEF KUHLBRODT