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Archiv-Artikel

ausgehen und rumstehen In Schlangen stehen und Erdnüsse trinken: Geriatrisch in Kleinstadt Mitte

Nach längerem Fernbleiben behandelt die nächtliche Stadt den Ausgeher und Rumsteher gerne wie einen lästigen Freund, der sich nur meldet, wenn er was von einem will. In diesem Fall: Rein ins White Trash, an der Datumsgrenze zwischen Freitag und Live-8-Sonnabend.

Bereits zu Fuß auf der Torstraße werden Caesario und ich allerdings von eiligen Hüftjeansträgerinnen mit wehendem Haar und Mobiltelefon am Ohr überholt, die wir kurz darauf im Nieselregen vor dem White Trash wiedersehen, wo sie sich längst zu einer fiesen Schlange zusammengerottet haben. Die sonst so angenehm ferienleere Stadt scheint sich wieder gefüllt zu haben. Wir rauchen erst mal eine, haben aber kein Feuer.

„Ey, ihr seid aber schlecht vorbereitet“, weist uns der stiernackige Brandenburger, der uns aushilft, zurecht. An seiner Seite zwei atemberaubende Begleiterinnen, mit denen er sich präsentiert, als wäre er gerade einem Bugatti entstiegen und und nicht seinem Ford, Kennzeichen MOL. Er stünde in der Schlange vor – wenn man sich denn die Blöße geben würde, sich in diese zu stellen. „Ich geh da jetzt vorbei und mach auf Gästeliste, Presseausweis, ich bin von der taz, irgendwas .“ – „Mann, hör auf!“ Caesario kann mich gerade noch vor dem Schlimmsten bewahren: Wer geht denn schon am Freitag ins White Trash!

Stattdessen lieber erst mal in die Z-Bar, einen ehrenwerten Laden mit Programmkino, gegen den überhaupt nichts zu sagen ist, mehr aber auch nicht. Nach einem Bier fühlt man sich so aufgeschlossen wie ein SPD-Kulturausschussmitglied in einer mittleren Kleinstadt, mit intaktem Kneipenangebot, aber ohne Clubs. Also heißt es zurück auf die Straße. Gerne würde ich jetzt behaupten, dass wir nicht noch mal durch den Regen zurück zum White Trash wären, um dort nicht an einer jetzt noch viel schlimmeren Schlange zu scheitern und daraufhin nicht mit dem 3-Euro-Taxi zum Roten Salon gefahren wären. Allein, dem war nicht so.

Im Roten Salon war gerade das Konzert einer Indie-Band zu Ende, von der ich noch nie etwas gehört habe, anschließend sollte es Karreraklub-Disco geben. Ein komisches Gefühl, nachträglich in diese Stimmung zu platzen, in der die Luft noch aufgeheizt und schon verbraucht ist. Aber bald ist der Saal wieder enthusiastisch. Der Inhaber von Mr. Dead und Mrs. Free legt auf, und junge girlfriends who look like a boyfriend tanzen zu Blurs Countryhouse und zu New Order – also zu Songs, zu denen sie vermutlich gezeugt worden sind. Hier ist es wie im Baumgarten, dem einst angesagtesten Indie-Laden zwischen Kiel und Rendsburg.

„Ihr seid wo?“, schreit die Freundin am Mobiltelefon, das man in all dem Lärm natürlich nicht sofort gehört hat. Sie will, dass man noch zu dem Essen in den Würgeengel kommt. Aber Kreuzberg kann sie heute vergessen. Caesario und ich sind längst in der Kleinstadt Mitte verschollen und fühlen uns mittlerweile so geriatrisch, als hätten wir uns für einen Auftritt beim morgigen Live-8-Konzert qualifiziert – wo dann ja Brian Wilson einen Gesichtsausdruck hinlegen wird, von dem man sich das ganze Wochenende nicht mehr erholt.

Aber vorher gehen Caesario und ich noch mit unseren letzten Reserven hausieren. Wir gehen in die 8mm-Bar – ein Tribut an meine „ausgehen & rumstehen“- Lieblingsautorin Jane Fränzel. Aber wir können Jane Fränzel nirgends finden, geschweige denn, dass ich wüsste, wie sie aussieht. Der DJ ist so frech, noch mal „Blue Monday“ zu spielen – weiß er denn nicht, wie übel uns im Roten Salon mitgespielt wurde? – und wir besaufen uns hemmungslos mit Erdnüssen. Gegen drei fällt uns ein, dass Caesario morgen Kindertag hat und ich mit meiner Freundin zu Ikea muss. ANDREAS MERKEL