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Archiv-Artikel

amerika im krieg (10) Ein Tagebuch unseres USA-Korrespondenten Michael Streck

Way Down On Highway 61

Wenn man aus dem tiefen Süden den Highway 61 in Richtung Memphis, Tennessee, nimmt, kommt man irgendwann zu „Stu-Mart’s“, dem ersten Zeichen intakter menschlicher Zivilisation nach einer langen Fahrt vorbei an eingestürzten Tankstellen, Geisterorten und überwucherten Bahngleisen. Der „Straßen-Weiler“ besteht aus einer lang gestreckten Blechhütte, die von einer Autowerkstatt und Wohnwagen eingerahmt wird und vor der zwei Zapfsäulen stehen. Eigentlich will man nur tanken und aufs Klo. Und bleibt drei Stunden. Vielleicht liegt es am Sonntag, an Frank Stuarts vorzüglichen Omeletts, seinem skurrilen Freund Emerson, der seltsam gemütlichen Speise-Ecke zwischen Jagdtrophäen, Regalen mit Autozubehör und Sammelgegenständen aus aller Welt oder dem Fernseher, der statt Kriegsberichten einen Gottesdienst nach dem anderen überträgt.

Stuart ist ein stämmiger Mann mit spitzbübischem Blick, rotem Gesicht und schmalem Vollbart. Zwei Finger fehlen an seiner linken Hand. Sie wurden von einer Erntemaschine zermahlen. Er sammelt Kaffeemaschinen, alte Patronen und Tierfelle, doch am liebsten ausländische Geldscheine, die er sich in großen Bilderrahmen an die Wand hängt. Stolz zeigt er sein voll geschriebenes Gästebuch. „Wie du siehst, sind auch eine Menge Franzosen dabei“, sagt er und grinst. Dann kramt er nach einem alten U-Bahn-Fahrplan von Berlin, den ihm ein Reisender geschenkt hat. „Ich muss sagen, ich mag die Deutschen.“ Als Kind habe er sich immer vor Deutschland gefürchtet. „Was gibt es dagegen zu sagen, dass sie keine Lust mehr auf Krieg haben?“

Emerson, der eigentlich John heißt, möchte ganz genau wissen, wie die Deutschen über den Krieg, Bush und die USA denken. Emerson raucht Kette, hat graue, strähnige Haare, eine verbogene rechteckige Brille und kaum noch Zähne. Er lebt in einen der Wohnwagen hinter „Stu-Mart’s“, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und hilft Stuart im Laden. Der Krieg sei ein Fehler, meint er und prophezeit Bush sein Vietnam, sollten die Kämpfe sechs Monate andauern. Außerdem gehe es natürlich um das Öl im Irak. Dies habe er spätestens verstanden, als Bush in seiner Kriegsankündigungsrede gleich zu Beginn gesagt habe, alles zu tun, um die Erdölfelder zu sichern. „Und warum bekommt Dick Cheneys frühere texanische Ölfirma bereits jetzt Millionen-Aufträge zum Wiederaufbau? Das stinkt.“

Dann mach er seinem Unmut über Bushs Wirtschaftspolitik Luft, lobt Clinton über den grünen Klee und sagt Sätze, die Washingtoner Politgurus nicht über die Lippen kommen, wie „Eigentlich ist es eine Schande, Bagdad zu bombardieren und diesen Krieg zu führen, schließlich liegt zwischen den beiden Flüssen im Irak die Wiege der Zivilisation.“

In den Flussebenen des Mississippi und seiner Seitenarme lag einst das Zentrum der US-Baumwollproduktion. Heute ist die als „Mississippi Delta“ bezeichnete Region – ein Landstreifen von rund hundert Kilometer Breite östlich des Stromes im gleichnamigen Bundesstaat – die ärmste in den USA. Für die wenigen Plantagenbesitzer lohnt sich der Anbau von Baumwolle, Reis und Mais überhaupt nur, weil sie dafür massive staatliche Subventionen erhalten. Außer einigen Papierfabriken existiert keine verarbeitende Industrie. „Die Situation im Delta ist deprimierend“, sagt Stuart.

Er hat sein Geschäft sieben Tage die Woche geöffnet und seine Dienstleistungen stetig ausgeweitet. Er greift sich Notizblock und Stift und präsentiert eine kleine betriebswirtschaftliche Jahresbilanz, die nicht rosig ist und verständlich macht, warum „Stu-Mart’s“ seit Jahren keine neuen Investitionen gesehen hat. Dann rechnet er vor, wie einfach es für Afroamerikaner ist, von der Wohlfahrt zu leben. In seinen Augen werden freie Unternehmer wie er letztlich bestraft, während Schwarze fürs Nichtstun noch belohnt werden. „Als Schwarzer würde ich auch keinen Finger mehr krumm machen.“ Wenn Schwarze seinen Laden betreten, gehen die Verkäufe rasch und nüchtern über die Bühne. Ansonsten pflege man die von beiden Seiten gewollte Distanz. Doch in Port Gibson, einer Kleinstadt einige Kilometer weiter, sind am Sonntagnachmittag in der First Baptist Church Rassenschranken und Kriegswidersprüche aufgehoben. Ein gemischter Gospelchor singt vor einer gemischten Gemeinde. Der vor zwei Wochen noch gegen den Krieg predigende Pfarrer betet nun für die US-Soldaten an der Front und wünscht sich für die Zukunft immer einen Präsidenten, der „so sehr in Gott vertraut“. Und alle stimmen am Ende ein in „America The Beautiful“.