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Archiv-Artikel

alarmbereit in der jahresendzeit (1) Aus dem Schnauben wird ein Seufzen

Jedes Jahr am 27. Dezember besucht mich der Geist der vergangenen Weihnacht. Er packt mich beim Kragen, reißt mich hoch, zieht mein Gesicht zu seinem Gesicht heran, lässt mich seinen modrigen Atem atmen und stößt mir mit dem Zeigefinger seiner freien Hand ein paarmal hart gegen die Stirn, dann lässt er mich fallen.

Die ganze Zeit über habe ich dabei in seinen Augen gesehen, was ich die drei tollen Tage zuvor verbrochen habe, sehe jedes Stück Schokolade, jedes Glas Wein, jede Roulade, höre jede Gotteslästerung, jede Vater-Mutter-Entehrung, jedes neidische Schielen auf das Haus, das Auto und das Geld meines Nachbarn und sehe in den Augen des Geistes zudem auf meinem Gesicht noch einmal mein fast schon blödes Erstaunen darüber aufscheinen, dass andere sich freiwillig Blockflötenkonzerte von eigens dazu abgerichteten Kleinmenschen anhören. Ich sehe Häme und Missgunst, Egoismus und Appetit. Ich sehe mich.

Danach, kaum dass mein Erschrecken sich gelegt hat, erscheint mir, auch er kommt immer wieder, der Geist der zukünftigen – nein, nein, nicht, was Sie jetzt vielleicht denken. Es ist der Geist der zukünftigen zwei tollen Tage, die man getrennt Silvester und Neujahr nennt und für die man zusammen keinen Namen hat und an denen ich, so zeigt mir dieser Geist – und ich glaube ihm das – Sünden auf beinahe die gleiche Weise begehen werde.

Dieser Geist zeigt mir außerdem die Reue, die mich erfassen wird, viel später und viel zu spät, wenn mir der kleine Bruder des Todes, der Kater, bereits seinen Cocktail aus Sodbrennen, Magenweh, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit eingeflößt haben wird. Alsdann tritt der Geist der gegenwärtigen Zwischenjahreszeit auf mich zu, der mir – auch er greift mich dabei am Kragen und schüttelt mich durch und durch – nur allzu deutlich zu verstehen gibt, dass es immerhin vier Tage seien, an denen ich Buße tun und Umkehr geloben könne. Dann lässt er mich fallen wie sonst nur CDU-Funktionäre ihre bei Bagatelldelikten erwischten Parteifreunde und stapft hinweg, seinen beiden Kollegen hinterdrein.

Ich aber rappele mich auf. Das Gewissen, jenes Organ, das Außerirdische und vernunftgeleitete Doktoren bei ihren Vivisektionen nur deshalb nicht im Körper finden, weil es eine mysteriöse Macht nach dem Jojo-Prinzip willkürlich in uns reintreiben und wieder herausholen kann, jenes Gewissen also pocht in mir, treibt mir das Blut schneller, als es das Herz je könnte, in den Kopf und dort besonders in die Wangen und befiehlt dem im Blute enthaltenen Adrenalin, sofort den Körper, und sei er noch so von der Völlerei geschwächt, in absolute Alarmbereitschaft zu versetzen. Da stehe ich, die Hände zum Zupacken bereit, die Füße scharrend, schnaubend, die Augen überall, ein einziger Wille.

In diesem Augenblick allerdings springt mich der Zweifel von hinten an. Er fragt mich ruhig (denn er ist der Erste, der ruhig bleibt): Was denn, mein Lieber, was willst du denn noch schnell erledigen? Willst du in vier Tagen die Steuererklärung, vor der du dich seit elf Monaten drückst, abgeben können? Kann es dir wirklich gelingen, deine Wohnung in diesen 4 mal 24 Stunden aufzuräumen? Waldemar hat vor neunzehn Tagen um deine Hilfe gebeten, warum hat er nicht wieder angerufen, wenn er sie noch benötigt? Will tatsächlich irgendjemand jetzt noch deine Antworten auf E-Mails, die dich vor sechs Wochen erreicht haben? Deine Großmutter erkennt dich nicht mehr, wie also könnte sie dir dankbar sein?

Mit diesen Fragen gelingt es dem Zweifel jedes Mal, Jahr für Jahr, das Gewissen und seine Helfer zu stoppen. Meine Hände werden schlaff, die Augen trüb, aus dem Schnauben wird ein Seufzen. Ich setze mich dann immer, entkräftet. Und werde krank, kurz und heftig. Erst am letzten Tag des Jahres wird mich die Krankheit freigeben. Und wie immer werde ich, froh über die Genesung, feiern und völlen. Dann kommt der Kater. Dann tausend andere Dinge. Erst in 360 Tagen bin ich wieder reif.

JÖRG SUNDERMEIER