Zwischen den Rillen: Entertainment, Hedonismus, Jugend, Sex
■ Als Amerika noch Spaß machte: Neo-Swingertum mit Urge Overkill, deren Rock nicht komisch riecht
Gute Rock- und Popmusik, so der legendäre amerikanische Kritiker Greil Marcus, enthalte immer den Aspekt der unmittelbaren Transformation sozialer Realitäten, ihre Übersetzung in neue Sprachen und neue Sounds. Dabei bezog er sich in jüngster Zeit besonders auf „My Mind's Playing Tricks On Me“, die Hymne der Geto Boys, die so emphatisch wie einst beispielsweise Dylans „Like A Rolling Stone“ die Frage stellt: „What's the hell's going on here?“
„Saturation“ ist der programmatische Titel der aktuellen vierten Platte des Chicagoer Trios Urge Overkill und bedeutet soviel wie Sättigung, aber auch Ausgereiztheit, Reizüberflutung. Im Gegensatz zu den Geto Boys scheinen Urge Overkill meistens ziemlich genau zu wissen, was gerade abgeht, beziehungsweise, was zu tun ist: „Rock 'n' Roll den Fängen des Todes entreißen“ beispielsweise.
Auch ich hatte die Wiederauferstehung von Seventies- Rock durch Bands wie Soundgarden u.a. zunächst als souveräne Poser-Geste gesehen: Sex und Entertainment. Seit geraumer Zeit läuft mir jedoch bei jeder zweiten Neuerscheinung das alte Zappa-Zitat aus den frühen Siebzigern über den Weg: „Jazz is not dead, it just smells funny.“ Man braucht für „Jazz“ nur „Rock“ einzusetzen: Was heute im (Un-)Geist von Grunge leider wieder so komisch riecht, ist nicht (mehr) teen spirit, sondern der längst entsorgt gewähnte Müll, dessentwegen man 1977 erst Punk, und 1982 dann die achtziger Jahre erfunden hatte: Authentizität, Natürlichkeit, Freiheit von Konfrontation und Widersprüchen, Sprachlosigkeit.
In ihrer Begeisterung für Werbung, Mode, Glamour und Verpackungsstrategien haben sich Urge Overkill schon sehr früh aus diesen und anderen Rockkontexten ausgeklinkt und sich erinnerungswürdigerer Momente der sechziger und siebziger Jahre angenommen: Hendrix, Sly Stone, The Beat, MC5, George Clinton, Phillysound, Neil Diamond. Legendär sind ihre liebevoll rekonstruierten, korrumpierend schönen Coverversionen von Hot Chocolates „Emma“ oder Neil Diamonds „Girl, you'll be a women soon“ (auf der letztjährigen „Stull“-EP); oder ihre 1991er Bühnenklamotten: enganliegende, goldene Einteiler-Samt, am Bauchnabel kreisförmig ausgespart.
Natürlich bedient sich diese offensive Künstlichkeit einer Begrifflichkeit, die Rockmusik augenblicklich so sehr scheut wie der Teufel das Weihwasser: derjenigen von Entertainment, Hedonismus, Jugend und Sex. Sänger und Gitarrist Nash Kato dazu in einem Interview mit der Zeitschrift SPIN: „Das ist unser Lebensstil – wir sind hier, um die Ära der Swinger wiederzubeleben: die späten Sechziger, das Playboy-Leben, als Amerika noch Spaß machte. Das goldene Zeitalter von Vegas, Neil Diamond, moonlight dancing und Anton La Vey.“
Hingeschrieben klingt das in etwa so, als wäre Urge Overkill von gelangweilten FACE-Mitarbeitern an arschlangweiligen Redaktionsnachmittagen erfunden worden. Warum müssen wir denn gerade das nun wieder toll finden? Was Urge Overkill wirklich groß macht, ist der beim Hören der Platten gewonnene Eindruck, die großmäuligen Konzepte und abgeschmackten Vorstellungen seien diesen Herren längst über den Kopf gewachsen, sie könnten von ihnen in ihrer Eigendynamik nicht mehr kontrolliert werden.
„Saturation“, die auf dem Major-Label Geffen erschienene, von den Butcher-Brothers produzierte aktuelle LP ist die bislang kommerziellste Äußerung Urge Overkills – weniger hysterisch und überkandidelt als beispielsweise ihr 91er- Meisterwerk „Supersonic Storybook“ — und leider ohne die obligatorische Coverversion. Urge Overkill haben sich hier am weitesten von ihren anfänglichen Core-Zusammenhängen (denen besonders die ersten beiden LPs noch stark verpflichtet waren) entfernt und zu einem breakreichen, auf klassischen oder besser: abgeschmackten Riffs aufgebauten Hardrock hinorientiert, der gerade in seiner vermeintlichen Konturlosigkeit die wirren außermusikalischen Beigaben und Konzepte bestens erdet. Was dabei herausspringt, ist die Schönheit einer in der Musik eingefangenen Unverhältnismäßigkeit, die sich auf „Saturation“ deutlicher denn je in den zahlreichen, von der Orthodoxie des typischen Urge Overkill- Songs abweichenden Details manifestiert: einem schmissigen Mitgröhl-Refrain in „Sister Havana“, Drumcomputern zu akustischen Gitarren, Synthiemelodien, Folkstimmen in „Dropout“ oder überdrehten Beat- Hysterien in „Erica Kane“. Und dazwischen immer wieder die unverhohlene Freude an der verbindlichen Kommunikation eines dem kollektiven Unbewußten der Rockgeschichte entliehenen Hardcore-Riffs.
Wie ging das noch? „Rock 'n' Roll den Fängen des Todes entreißen“. Als ich das zum ersten Mal hörte, mußte ich unwillkürlich an die berühmte Filmszene denken, in der Peter Ustinov als Nero mit seiner Leier im Arm das brennende Rom besang. „Saturation“ ist Zustandsbeschreibung und Programm zugleich. Gegen Reizüberflutung hilft kaum ein „Zurück zur Natur“, eher schon der Wille zum Wissen. Christopher Emrich
Urge Overkill: Saturation (Geffen/WEA)
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