Zwischen den Rillen: Sind Blitzlichter hörbar?
■ Neues von der Allwissenden Billardkugel
Wenn männliche Mitmenschen mit philosophischem Hintergrund als Wortemesserwerfer auftreten, rauscht das in einem ganz eigenen Stil. Der erste Wurf der Allwissenden Billardkugel – die ich als solche gern besäße, um sie hin und wieder als Orakel zu gebrauchen – rauscht gleich mehrgleisig. Weswegen man ihn unbedingt in ausgeruhtem Zustand begutachten sollte. Diese Fülle, diese Namen, um Goethe zu verfälschen!! Eine scheinbar solipsistische Verklammerung von Texten, Musik und – keinesfalls nur das Booklet illustrierenden – Comics ergibt den schönsten, sogar tanzbaren Zitaten- Pop.
„Polaroids aus Amnesia“ stellt erstaunlich interessante Fragen an den Anfang einer Reise, die über 18 Stationen durch Archive, halbfiktive Tagebuchnotizen und „simple“ Songs geradewegs in eine Verschwörung führt. „Sind Blitzlichter hörbar?“ sinnieren Thies Mynther und Gerrit Detonzin, der erste ganz Blut, der zweite eher Knochen des Unternehmens. Zwei Repräsentanten der vielzitierten „Generation X“, die, eher unbewußt in der Nachfolge des Autors Coupland, Geschichten aus dem Alltagslexikon der Neunziger als Comicstrip erzählen. Da werden Herzen nicht mehr in Baumrinde, sondern auf Schaumstoffmatratzen geritzt, Skalpelle in Kühlschränken und Todeszellen hinter Schrankwänden gesichtet. Aber wenn Thies Mynthers helle, scharfe, hippelige Stimme ein „Ich bewege mich nicht“ dazwischensetzt, sollte man das nicht unbedingt glauben. „Polaroids aus Amnesia“ ist nichts weniger als ein Manifest – jawohl! – und endet mit genauen Handlungsanweisungen wie „Bekämpft die Dummheit! Jetzt! Bleibt in Bewegung!“. Nicht die übelsten Vorschläge städtischer Intellektueller, im Gegenteil. Denn warum soll das Operative immer den Hip-Hoppern überlassen bleiben? Die Sicht der Alwissenden Billardkugel läßt das Objektiv ganz pagliaesk zum Projektil mutieren; alle verfügbaren Speicher sind auf Abruf geschaltet, und der Schalter wird gerade auf Start gekippt. Falsch geklebte Risse in der Zeit sollen ein neues Passwort bekommen, verbal plus musikalisch, und da entstehen dann doch Erwartungen. Die Utopia wird zwar nicht als solche bezeichnet, kommt aber doch irgendwie im Sackgewand durch die Hintertür, auch wenn der Sänger angesichts dieser Behauptung schmerzerfüllt aufschreien wird.
Denn „gerade der Mangel an Utopie“ brachte wohl die Billardkugel ins Rollen. Auf jeden Fall will sie „ein Haus bauen“, gegen den „Konsens des Dagegen“ vermutlich, wie es woanders expliziert wird. Dazu werden Zusammenhänge zerrissen, um die Bruchstücke in andere Zusammenhänge zu bringen (siehe auch „Passwort“), Elemente und Fragmente von allem Möglichen benutzt, um mit den Medien gegen die Verschwörung der Medien zu arbeiten. Kein leichtes Unterfangen, das jedoch mit bizarrem Humor angegangen wurde. Die Puppe beispielsweise, die jetzt das Cover ziert, fand Mynther einst auf einer Straße in Gladbeck anstelle der Person, die er eigentlich suchte.
Fragmente über Fragmente also. Beim ersten Hören habe ich Dumpfbacke allein Zitate von und Anspielungen auf James Dean, The Jesus & Mary Chain, The Sparks, Wernher von Braun, Floh de Cologne, Albert Schweitzer, The Cure und Ton Steine Scherben rausgehört oder auch reingehört. Wer Egon Friedell wegen Papi nicht lesen mag, findet hier die „andere“ Kulturgeschichte der letzten vierzig Jahre. (Wie mir die Billardkugel freundlich erklärte, kommen auch D. Diederichsen und Sandra Grether vor, aber die habe ich – Dumpfbacke eben – nicht erkannt.)
Beim name-dropping darf, wenn schon, Kim Fowleys „Snake Dokument Masquerade“ nicht fehlen. Comic, Science-fiction, Popkultur überhaupt und „direktes Leben“ (Mynther) fügen sich zu Songs, deren Sätze und Töne „eine Gegenspur lauter als sonst“ ausfallen, ein besessener luzider Overkill des „Wider-Sprechens mit all den toten Wörtern“ (und Melodien), um eine neue Plattform in der immer schneller werdenden Zeit zu schaffen. Die ist natürlich eine aus Versatzstücken, und auf ihr konstruiert man durch Simulation der Realität die seltsamsten Metaklischees für Geschichten von Abgrenzung, Ausgrenzung, Isolation, Schmerz, Liebe und Gewalt in Zoos, Autokinos oder pornographischer Katakombe. Die Paraphrase vom „Paralleluniversum“ entspricht dem am ehesten: Hologramme, Plastikdinge, Mikrofone, Telefone und vor allem Monitore laufen à la „Watchman“ gleichzeitig, auf jedem ein anderer Sender – in der Endlosschleife oszillierende Realität.
Das klingt so bißchen abstrakt, ist aber beim Hören konkret und große Klasse, wenn etwa wie in „Zoos + Autokinos“ die Unfallballaden der fünfziger („Leader of the Pack“) wiederkehren oder anderswo die Ton-Steine-Scherben-Attitüde als schlendernde, zurückgehaltene Aggressivität auftaucht.
Selten so gelacht wie beim „Endlosen Frühstück“: Er ist Killer, sie badet dafür dreimal am Tag, und trennen wird man sich nie wirklich, denn „Du kannst gehn/ doch dein Karma bleibt hier“. Dazu ein bißchen Dancefloor, etwas Glam-Rock, sogar Singer/Songwriterei und anderes mehr, aber trotzdem „wird nichts sein, wie es war/ in meinem neuen Haus“. Kein bloßes Aufkochen, sondern „Architektur als Perspektive“. Mynther/Detonzin wollen weder Feedback-Ghetto noch bloße Destruktion, auch ums pure Aufsammeln geht es ihnen nicht: „There must be more to life than this“ und „Es ist Zeit“, verkünden sie. Haben wir das nicht so ähnlich schon mal gehört? Klingt das romantisch? Das macht gar nichts und ist Absicht. Der Film wird sowieso rückwärts gespult, „und ich muß/ noch mal zurück!“ heißt es Klartext. In die Zukunft nämlich.
Blitzlichter sind natürlich hörbar. Die Frage ist vielmehr: Was macht die Billardkugel nach dieser Scheibe, die als Konzeptalbum zu bezeichnen ich mich schrecklich geniere. Einen Brief ans Ich schreiben, wie auf dem Cover angekündigt? Ja. Nein. Vielleicht. Anke Westphal
Die Allwissende Billardkugel: „Polaroids aus Amnesia“, Whats So Funny About/ Indigo
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