piwik no script img

Zwei Blatt Papier und etwas Buntstiftmine

■ Politisch erfrischend inkorrekt: Ernst Kahls Kurzfilm Ortsgruppenleiter Archie

Wie interviewt man Ernst Kahl? Natürlich ohne Aufnahmegerät! „Nach meiner Erfahrung bringt das nichts“, sagt er, und mit journalistischer Authentizitätshuberei hat Ernst Kahl sowieso nichts am Hut. Neben ihren offensichtlichen Qualitäten – ihrer Bissigkeit, ihrem verqueren Denken und ihrer Genauigkeit – zeichnet Kahls Arbeiten in der Titanic, in der Konkret oder anderswo ein oft spielerischer Umgang mit dem eigenen Medium aus. Man weiß eben oft nicht, ob er das ernst meint oder sich über einen lustig macht. Und zugleich weiß man, daß Kahl genau das Spiel mit dieser Frage bewußt einsetzt.

So auch bei seinem neuesten Streich. Als Vorfilm vor dem heute in die Kinos kommenden Clerks (Kritik siehe oben) ist mit Ortsgruppenleiter Archie ein kurzer Streifen aus Kahls Feder zu sehen (Szenenbild siehe rechts). Es ist die tragische Geschichte eines Neonazis, der bei einem Anschlag auf ein Asylbewerberheim sein Geschlecht einbüßt und dem dafür die Genitalien eines Schwarzen angenäht werden, gezeichnet mit einem rührend unsicheren Kinderstrich, vertont mit den Sprechern Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun, gefördert durch das Hamburger Filmbüro und produziert von der Boje/Buck-Filmproduktion, die auch für Detlev Bucks Komödien verantwortlich ist.

Ernst Kahl ist selbst über die Reaktionen auf dieses Werk überrascht, das ihn zwei Blatt Papier und ein wenig Buntstiftmine gekostet hat. Auf den Hofer Filmtagen ist es schon mit Erfolg gelaufen, bei einer Hamburger Voraufführung wurde es beifällig aufgenommen. Da die Story, was das Politische angeht, erfrischend inkorrekt ist, hat Ernst Kahl einige lustige Anekdoten zu erzählen. So hatte die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft Bedenken angemeldet, bevor sie das Werk freigab, und um das Prädikat „wertvoll“ zu erhalten, mußte auch einige Überzeugungsarbeit geleistet werden. Mit der Asylproblematik treibt man eben keine Scherze. Wenn jetzt noch einige Zuschauer sich betroffen zeigen, dürfte Ernst Kahl mit sich zufrieden sein.

Ansonsten betätigt er sich als souveräner Verwalter seiner vielen Interessen und Talente. Gerade schreibt er einige Songs (vor kurzem ist er im überfüllten Pudels Club aufgetreten), danach wird er an seinen ersten abendfüllenden Spielfilm gehen (Wert legt er auf die Feststellung, daß sein Drehbuch zu Werner beinhart gut war und nur durch die Umsetzung verhunzt wurde).

„Jetzt hast Du doch genug zum Schreiben“, sagt Ernst Kahl. „Ja, klar.“ – „Aber mach mich nicht fertig.“ Natürlich nicht. Wieso auch? Schließlich ist Ernst Kahl voll in Ordnung.

Dirk Knipphals

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen