Zwangsarbeiter: Geschichte wird gemacht
Exkursionen wie die nach Schwetig/Swiecko sind die Spezialität des Instituts für angewandte Geschichte. Es begann einst in einer Pizzeria im polnischen Slubice.
Sie leben in Berlin, Frankfurt (Oder) oder im polnischen Slubice. Sie sind Historiker, Kulturwissenschaftler oder Studierende der Europauniversität Viadrina. Vor allem aber sind sie der Auffassung, dass Geschichte nicht nur ins Geschichtsbuch gehört, sondern sinnlich erfahrbar sein muss. So, wie sie selbst Geschichte machen - im Institut für angewandte Geschichte.
"Angefangen hat es 2001 in einer Pizzeria in Slubice", erzählt Bernd Vogenbeck, einer der Gründer. "In Bierlaune haben wir beschlossen, dass wir Geschichte nicht nur studieren, sondern auch anwenden wollen." Was den 28-Jährigen mit seinen deutschen und polnischen Mitstreitern einte, war die Überzeugung, dass es ohne Geschichte keine Zukunft geben kann. "Natürlich trennt die Geschichte an der Grenze zwischen Deutschland und Polen", meint Vogenbeck. "Aber sie ist auch die Voraussetzung zum Dialog."
Inzwischen ist aus der Bierlaune eine ernste Sache geworden. Mitglieder des Instituts begleiten ehemalige Vertriebene auf "Heimatreisen" - individuelle Betreuung und Übersetzung inklusive. Für die Viadrina organisiert das Institut Exkursionen und bietet, wie Jan Musekamp, auch Seminare an. Derzeit wird die Geschichte der ehemaligen Ostbahn von Berlin über Küstrin nach Königsberg erkundet.
Raus aus dem Elfenbeinturm und rein in die Feldforschung ist auch das Motto bei der Neuvermessung der einstigen Neumark, jenem Osten Brandenburgs, der heute Ziemia Lubuska heißt. "Es gibt in Frankfurt eine Frau, die kann über die Oder auf das Haus schauen, in dem sie geboren wurde", weiß Magda Abraham-Diefenbach. Vor drei Jahren ist die Philosophin aus der Kaschubei nach Frankfurt gekommen - der Liebe wegen. "Der Einstieg beim Institut für angewandte Geschichte", sagt sie, "war für mich auch eine Möglichkeit, meine neue Heimat kennenzulernen." Mittlerweile kennt sie sie so gut, dass sie sogar darüber geschrieben hat: "Flucht, Vertreibung, Aussiedlung. Der Osten Brandenburgs nach 1945" heißt die Abhandlung, in der Abraham-Diefenbach die Ziemia Lubuska als "Chaos" auf dem Weg in eine neue Ordnung beschreibt.
Erschienen ist der Text im Almanach "Terra Transoderana", den das Institut in diesem Jahr herausgegeben hat. Ziel ist es, so Mitherausgeber Vogenbeck, "über die Auseinandersetzung mit der Geschichte auch zur Herausbildung einer regionalen Identität beizutragen". Längst beschränkt sich das Institut damit aber nicht mehr nur auf den Oderraum. "Wir haben die Ausschreibung für das Projekt Geschichtswerkstatt Europa gewonnen", freut sich Vogenbeck. Künftig koordinieren drei Mitarbeiter also Geschichtsprojekte in ganz Osteuropa, die von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung Zukunft gefördert werden.
In der Pizzeria treffen sie sich, wenn sie Zeit haben. UWE RADA
"Terra Transoderana. Zwischen Neumark und Ziemia Lubuska". be.bra verlag, 256 Seiten, 19,90 €
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