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Archiv-Artikel

Zwang geht voll daneben

Erstmals belegt eine Studie: Wohnungslose Menschen wollen arbeiten – aber auch mitdenken. Zwangsmaßnahmen und gut gemeinte Belehrungen empfinden Ausgegrenzte aber als demütigend

„Zwang und Erziehungsabsichten eröffnen keine Perspektive“

VON INES KURSCHAT

Von wegen arbeitsscheu: Die meisten Obdachlosen wollen arbeiten – es gibt nur zu wenig passende Angebote. Das hat eine Studie der Freien Universität Berlin nun ergeben, die in dieser Woche vorgestellt wurde. In ihrer Untersuchung, der bisher größten in der Bundesrepublik, befragte die Soziologin Liane Schenk 760 Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Berliner BürgerInnen. Über 60 Prozent der Befragten wünschten sich demnach eine feste Arbeitsstelle oder eine Berufsausbildung.

Auch mit der Mär, Obdachlose würden ihre Arbeit wegen ihres unsteten Lebensstils verlieren, räumt die Umfrage auf: Wohnungsnot entsteht fast immer als Folge von Arbeitsplatzverlust, und nicht umgekehrt. Je länger aber die Arbeitslosigkeit andauert, umso schlechter wird die gesundheitliche, körperliche und geistige Verfassung der Betroffenen. „Nicht mangelnde Arbeitstugenden führen zur Obdachlosigkeit, sondern die Tugenden gehen im Laufe der Arbeits- und Obdachlosigkeit verloren“, sagt die Wissenschaftlerin. Ein Teufelskreis entstehe, denn parallel dazu verschlechterten sich die Chancen auf eine Rückkehr ins alte, „normale“ Leben.

Experten aus der Praxis beobachten dies täglich. „Sicherlich setzt sich mit fortdauernder Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot eine Demotivationsschraube in Gang“, bestätigt Rainer Wagner, beim Diakonischen Werk für die Betreuung von Obdachlosen zuständig. Umso wichtiger sei es, diesen Menschen so früh wie möglich und mit angemessenen Jobs einen Weg zurück ins normale Arbeitsleben zu ermöglichen. „Doch den zu finden, ist fast wie ein Lotteriespiel“, sagt Wagner. Denn nicht nur ist Arbeit derzeit allgemein rar gesät. Arbeitslose, die schon länger ohne Dach überm Kopf leben, müssen das Arbeiten oft erst wieder mühsam erlernen.

Derlei Angebote mit qualifizierter Betreuung gibt es zu wenige. Wie viele genau fehlen, ist aber unklar: Der Senatsverwaltung liegen aktuelle Zahlen offenbar nicht vor. Laut Christian Linde, Chefredakteur der Obdachlosenzeitung Motz, aber haben von rund 6.000 berechtigten Personen im Frühjahr dieses Jahres lediglich 1.900 eine entsprechende Betreuung erhalten.

Konkret heißt das: Nur jeder Dritte hat das Glück und kann bei einem Projekt wie der „Plattengruppe“ in Treptow-Köpenick, einer Wohn- und Arbeitsinitiative für Obdachlose, mitmachen. Alle anderen gehen leer aus. Ihnen bleibt nur die Straße. Die„Plattengruppe“ organisiert Umzüge, streicht Wohnungen, erledigt kleinere Reparaturarbeiten – und dabei lernen die Ausgegrenzten wieder das Einmaleins der Arbeitswelt: Pünktlichkeit, Sorgfalt, Zuverlässigkeit. Und das ganz freiwillig.

Wie wichtig der Aspekt der Freiwilligkeit bei reintegrativen Arbeitsmaßnahmen für Wohnungslose sei, betont auch Liane Schenk in ihrer Untersuchung: „Die Kombination von Arbeitsmaßnahmen mit Zwang und Erziehungsabsichten eröffnet keinerlei berufliche Perspektive.“ Sie würden von den Betroffenen als demütigend empfunden.

Diese Erkenntnis hat es in sich, denn sie stellt aktuelle wie künftige Eingliederungsmaßnahmen, die auf Zwang beruhen, radikal in Frage. So wird Hartz IV mit seinen Ein-Euro-Jobs ebenso wenig zur Wiedereingliederung von Wohnungslosen in den ersten Arbeitsmarkt taugen, wie derzeitig die so genannten gemeinnützigen Arbeiten der SozialhilfeempfängerInnen. Eine Rückkehr, so das einhellige Fazit der ExpertInnen, funktioniert nur, so lange sie gemeinsam mit den Betroffenen geplant wird und deren Können und Wünsche im Mittelpunkt stehen. Anders ausgedrückt: Ein obdachloser Mechaniker kann sich kaum mit einem Lebenslauf bewerben, aus dem hervorgeht, dass er Stadtlaub geharkt hat.