: „Zurück in die altbewährten Sackgassen?“
■ Jegor Ligatschows Vorschläge für die Zukunft des Sozialismus / Sowjetischer Konservatismus verharrt in der Vergangenheit
Wenn der „Radikale“ Boris Jelzin auf der Bühne der Perestroika links neben Michail Gorbatschow zu positionieren wäre, gebührte der Platz rechts von ihm ohne Zweifel dem allgemein als konservativ anerkannten Jegor Ligatschow. Diese Politiker bilden eine eigentümliche Troika. Sie gehören zu den Männern der ersten Stunde von 1985, den Initiatoren der Perestroika.
Ligatschow ist ein Verfechter des sich als völlig ineffizient gezeigten Einparteienmonopols in der Politik, der technokratischen Modernisierung der Kommandolenkung in der Wirtschaft sowie des ideologischen Einheitsdenkens. Er hält an dem fest, was er als gesund erachtet, aber gerade das ungesündeste am Sozialismus ist. Der sowjetische Konservativismus erhebt den Anspruch, die einzig wirkliche revolutionäre Theorie zu sein. Er übernimmt aus der Vergangenheit allein nur das, was seit jeher konservativ oder reaktionär gewesen ist.
Ligatschow glaubt an den Kommunismus, was als Funktionär einer kommunistischen Partei nicht verwunderlich ist und wünscht uns allen eine bessere Zukunft. Das herausstechende Merkmal des Konservatismus auf „sowjetisch“ jedoch ist, daß dieser die bessere Zukunft unweigerlich nicht aus den Folgen, sondern aus den Fehlern der Vergangenheit ableitet.
Ligatschow kann jedoch nicht abgesprochen werden, manches in der Politik des Apparates modernisieren zu wollen, insbesondere die traditionellen Leitungsfunktionen der Parteigrundorganisationen. Er ist ein Experimentator und versucht, Glasnost im Kampf um den Sieg der eigenen Auffassung von der Perestroika einzusetzen. Seine übersteigerte Fernsehaktivität im Sommer 1989 verdient sogar Hochachtung. Jedoch scheint es, daß der Apparat selbst ein Experiment an Ligatschow vornimmt, mit dem er die Wirksamkeit neuer Methoden in der konservativen Politik und Propaganda testet, aber gleichzeitig gerade ihn als Zielscheibe aufbaut, damit sich die gesamte Kritik der radikalen Demokraten auf eine Figur konzentriere. „Damenopfer“ ist ein beliebter Trick nicht nur im Schachspiel, sondern auch in der Politik.
Daß die von Ligatschow angebotene Politik und dessen persönliches Schicksal zum Scheitern verurteilt ist, erhellt vor allem daraus, daß er sich freiwillig oder der Parteidisziplin unterworfen selbst zum Gefangenen des Mythos von der Einheit (der Partei, des Landes, des Sozialismusmodells) gemacht hat. Diese Einheit war nie vorhanden, selbst als sie vom Stalinregime aufrechterhalten wurde. Und um so weniger jetzt. Nach seiner Reise in die noch von Honecker regierte DDR versicherte er, dort stehe alles bestens. Überhaupt gehörte dieses Land zu den Lieblingsbeispielen Ligatschows, dem nachzueifern er die sowjetische Öffentlichkeit aufforderte.
Mythen, die im Kopf eines Menschen herumspuken, der reale Macht besitzt, sind selbst dann gefährlich, wenn der Nährboden, aus dem sie einst entsprangen, nicht mehr existiert.
Manche, beinahe symbolische Gesten der Perestroika verdeutlichen deren Verlauf besser, als die gravierendsten Reformen. Für mehrere Monate des Jahres 1986 mußten Ligatschow und andere Parteifunktionäre seines Ranges aus dem Präsidium des Kreml-Palastes zunächst einmal in eine Sonderloge, dann sogar ins Parterre zu den übrigen Abgeordneten umziehen. Später wurde auf dem zweiten Kongreß der Volksdeputierten die Frage nach Abschaffung des Artikel sechs zur führenden Rolle der KPdSU aus der Verfassung gestellt. Dieser Verlauf der Perestroika, der weit über den Rahmen des Stalin-Breschnew-Modells hinausging, schockierte Ligatschow und machte ihn objektiv vom Verfechter des Fortschritts im Lande zu einem Gegner.
aus Moskau News Nr.3/März
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