■ Zur Verve, die Politiker der Schweinereien zu überführen: Sonthofen-Journalismus
Es ist schon merkwürdig. Drei Jahre nach dem Sturm auf die Normannenstraße erleben wir in Westdeutschland eine Springflut von Politikerskandalen und -skandälchen. Nach drei Jahren Stasi-Debatte wird nun auch im Westen die politische Klasse demontiert. Deutschland mag kulturell und ökonomisch gespaltener sein als je. Psychologisch sitzen wir offenbar dennoch in einem Wassertank.
Zugegeben, es ist nicht ganz dasselbe, ob jemand in einem Unrechtsstaat Recht beging oder in einem Rechtsstaat Unrecht. Aber der aufgewühlte Dreck der Stasi scheint in Westdeutschland ein ungeheures Reinlichkeitsbedürfnis zu erzeugen. Die Veröffentlichung intimer Niedrigkeiten von Stasi-Spitzeln hat bei uns einen ganz unspezifischen Appetit auf dunkle Politikergeschichten erregt. Streibls Lapas, Weizsäckers Tochter, Lafontaines Leibwächter, Möllemanns Vetter, Schwätzers Immobilien. Im einzelnen blickt keiner mehr durch. Nur im großen und ganzen versteht es jeder: Politiker sind Schweine. Auch ohne Stasi.
Wir gehen mit der politischen Klasse um, als hätten wir noch eine zweite im Keller. Haben wir aber nicht. Es gilt die Faustregel: Wer unbescholten ist, ist auch unbeleckt. Also müßten wir langsam auf eine etwas schonendere und nachhaltigere Behandlung dieser Spezies umschalten. Daß das nicht geschieht, dafür sind nicht einzelne Investigations-Journalisten verantwortlich. Wenn die auf eine politische Affaire stoßen, bleibt ihnen aus berufsethischen Gründen nichts anderes übrig als weiter zu recherchieren und zu veröffentlichen. Nur: In was dann diese Story eingespeist wird, wem sie dient, wie schrill die Kommentare sind, das geht über die Informationspflicht hinaus. Hier beginnt die politische Verantwortung. Viele Kollegen und Kolleginnen argumentieren, die Parteien und Politiker würden sich erst ändern, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Solcher Sonthofen-Journalismus muß sich allerdings fragen lassen, wo diesem Land das Wasser steht, wenn es den Politikern schon bis zum Halse reicht. Und wenn man die aktuellen Reinlichkeitskriterien an andere, an uns alle gar, anlegt, kommt nur heraus, daß wir ein schreckliches Volk sind. Nationaler Selbsthaß aber ist hierzulande nur der kleine Bruder nationalistischen Größenwahns. Im übrigen deutet bislang nichts darauf hin, daß galoppierende Politikverdrossenheit die Veränderungsbereitschaft in den Parteien erhöht.
Kritischer Journalismus hat sich hierzulande gegen reaktionäre Strukturen entwickelt. Das ist sein großer Verdienst. Aber es fragt sich, ob die damit einhergehenden Methoden der möglichst schonungslosen Kritik, des stetigen Entlarvens, des Lächerlichmachens, des Runterschreibens von Koalition und Opposition, nicht mittlerweile zur Destruktion von Politik überhaupt beitragen. Viele „fortschrittliche“ Journalistinnen und Journalisten haben ihr Handwerk im Kampf gegen eine formierte Gesellschaft gelernt. Die gibt es aber nicht mehr. Unsere Gesellschaft befindet sich in Auflösung. Zeit, das eigene Handwerkszeug kritisch zu überprüfen. Bernd Ulrich
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