■ Zur Entlassung von Irmgard Möller: Spät, aber nicht zu spät
Der Krieg der USA in Vietnam steuerte auf sein dramatisches Finale zu. In Bonn regierten die Ostpolitiker Willy Brandt und Walter Scheel. Bei der Bundestagswahl im Herbst 1972 triumphierte erneut der sozialdemokratische Kanzler, der einmal unter der Parole „mehr Demokratie wagen“ angetreten war. Da saß Irmgard Möller schon in strenger Einzelhaft.
22 Jahre und fünf Monate nach ihrer Verhaftung kommt die RAF- Gefangene frei. Keine Frau in der Bundesrepublik hat für ihre Taten länger büßen müssen. Im Sommer 1972 war sie, wie fast die gesamte Gründergeneration der „Rote Armee Fraktion“, den Fahndern ins Netz gegangen. Nur Wochen zuvor hatte die RAF mit ihrer ersten großen Anschlagsserie die Republik aufgewühlt. Es war die Zeit, als sich die Medien, auch die liberalen, auf den Kampfbegriff „Baader- Meinhof-Bande“ verständigten. Kriminell, nicht politisch sollte die Öffentlichkeit die Untergrundgruppe wahrnehmen.
Irmgard Möller konnte, 25jährig, nicht ahnen, daß sie das Gefängnis als 47jährige verlassen würde. Das war ein Segen. Die Maßlosigkeit des staatlichen Strafanspruchs fand ihren Ausdruck zuerst in der systematischen Isolation der RAF-Gefangenen. Später in der fast endlosen Dauer der Haft. Lange sah es so aus, als sollte das Urteil „lebenslang“ auch lebenslang werden. Wer den „liberalsten Staat, den es auf deutschem Boden je gab“ radikal in Frage stellte, der sollte ihn kennenlernen. Irmgard Möller lernte ihn kennen, wie nur wenige andere in diesem Lande.
Die Festnahme an einem Kiosk in Offenbach am 9. Juli 1972 war Resultat eines Verrats: Ein Gruppenmitglied hatte sich unter Druck der Polizei als Lockvogel zur Verfügung gestellt. Möller (und mit ihr Klaus Jünschke) liefen in die Falle. Wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilte das Hamburger Schwurgericht die vormalige Literaturstudentin nach fast vier Jahren Untersuchungshaft zu viereinhalb Jahren Gefängnis. Ein zweiter Verrat brachte ihr 1979 vor dem Landgericht Heidelberg die lebenslange Freiheitsstrafe. Ein „Kronzeuge“, den es nach dem Buchstaben des Gesetzes damals eigentlich nicht geben konnte, hatte den Justizbehörden ihre Beteiligung an einem Autobombenattentat auf das US- Hauptquartier in Heidelberg offenbart. Dabei starben im Mai 1972 drei GIs. Tödliche Anschläge „gegen die Massenmörder von Vietnam“, schrieb das RAF-Kommando in seinem Bekennerbrief, „sind gerechtfertigt“.
„Der bewaffnete Kampf war legitim“, insistierte Irmgard Möller vor zwei Jahren. Da war auch sein Scheitern schon Geschichte. Die Nachfolger der Baaders und Meinhofs hatten gerade, zweieinhalb Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, das Ende der „Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat“ verkündet. Irmgard Möller war es, die die fundamentale Kehrtwende der Untergrundgruppe im Namen aller inhaftierten RAF-Mitglieder ausdrücklich begrüßte.
Irmgard Möller ist „ungebrochen“, sagen ihre Bewunderer. Irmgard Möller ist „unverbesserlich“, sagen viele, die zu Zeiten ihrer Festnahme der RAF nicht nur klammheimlich applaudierten. Ist es „unverbesserlich“, unter den gegebenen Umständen am Kern der eigenen Lebensgeschichte festzuhalten? Kaum. Eher schon Selbstschutz, Überlebensstrategie. 22 Jahre Haft, im Wissen, es war nicht nur alles umsonst, es war auch alles falsch. Das übersteigt wohl die Kraft eines Menschen.
1977 überlebte Irmgard Möller als einzige die Stammheimer Todesnacht. Stunden, nachdem ein Trupp der Grenzschutzsondereinheit GSG 9 in der Nacht zum 18. Oktober auf dem Flugfeld von Mogadischu die Urlauber-Maschine „Landshut“ gestürmt und die Geiseln aus der Gewalt der palästinensischen Hijacker befreit hatte, töteten sich im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim die RAF-Gründer Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe. Irmgard Möller fand man mit Stichwunden in der Brust in ihrer Zelle. Bis heute bestreitet sie vehement den kollektiven Selbstmord. Von ihrer Version, sagen Leute, die sie persönlich kennen, ist sie überzeugt.
Wer zu lebenslanger Haft verurteilt ist, kann, so bestimmt es das Strafgesetzbuch, frühestens nach 15 Jahren raus aus dem Knast. Vorausgesetzt, bestimmte Bedingungen sind erfüllt. Im besonderen Fall der Gefangenen aus der RAF natürlich vor allem die Erwartung des zuständigen Gerichts, daß der oder die Verurteilte nicht wieder in den Untergrund abtaucht.
15 und mehr Jahre sitzen zur Zeit acht weitere RAF-Gefangene. Bei einigen von ihnen wird demnächst über die „vorzeitige Entlassung“ entschieden, bei anderen müßte es nach der Freilassung Möllers leichter werden, die vorgeschriebenen Prozeduren zu absolvieren. „Abschwör-Rituale“, die Verleugnung der eigenen Lebensgeschichte, gehören nicht dazu. Der Fall Möller beweist es spät, aber nicht zu spät.
Für die Gefangenen geht es um Freiheit und Identität. Sie wollen das eine nicht ohne das andere. Für den Staat geht es um die unblutige Abwicklung eines der blutigsten Kapitel der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Da ist Irmgard Möller, da wären die acht anderen nur ein Anfang. Die eigentliche Bewährungsprobe steht noch bevor.
Ob der Staat, ob die Politik, ob die Justiz sie besteht, entscheidet sich an den Antworten auf eine – überschaubare – Zahl schwieriger Fragen: Was geschieht mit sechs weiteren Gefangenen mit lebenslangen Freiheitsstrafen, die zwischen 1982 und 1986 festgenommen wurden, und deren „vorzeitige Entlassung“ derzeit nicht auf der Tagesordnung steht? Wird ihnen die Möglichkeit der Kommunikation untereinander ermöglicht? Was geschieht mit Sieglinde Hofmann, deren fünfzehnjährige Haft im kommenden Mai ausläuft, die die Bundesanwaltschaft aber mit dem Ziel einer lebenslangen Strafe erneut anklagen will? Was geschieht mit Birgit Hogefeld, die in Bad Kleinen festgenommen wurde und jetzt in Frankfurt wegen Mordes angeklagt ist; die aber auch im April 1992 das Ende der blutigen Anschläge der RAF mit eingeleitet hat? Schließlich: Was geschieht mit der Untergrundgruppe selbst, die für die Morde der achtziger Jahre verantwortlich ist, aber auch für die „Deeskalation“ steht, die Politiker und Wirtschaftsführer seit zweieinhalb Jahren besser schlafen läßt?
Der bewaffnete Kampf unter der Buchstaben-Ikone RAF ist beendet. Damit er nicht wieder aufflammt, sind jetzt Schritte nötig, die die Möglichkeiten der Justiz überstrapazieren. Gefordert ist die Politik. Die hat sich in aufregenden Zeiten der Eindämmung des Terrorismus nicht gescheut, Sondergesetze zu verabschieden, Hochsicherheitstrakte zu bauen und den Aufwand für den Sicherheits- und Repressionsapparat zu verzehnfachen.
Es wäre also nicht das erste Mal, daß in diesem Zusammenhang vom Prinzip „kein Sonderrecht für niemand“ abgewichen würde. Aber voraussichtlich das letzte Mal. Den Versuch wäre es wert. Gerd Rosenkranz
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